
Wo man singt, da lass‘ dich nieder…
Vor einigen Tagen hatte ich die Ehre und das Vergnügen beim „Lunchkonzert“ mit Mitgliedern des Staatsorchesters als Gastsängerin in der Stadthalle Braunschweig, mitzuwirken. Das Konzert war, wie jedes Mal, bestens besucht. Es stand „Tango Nuevo“ auf dem Programm, mit welchem wir als Ensemble schon einige Male erfolgreich Konzerte gaben und uns auch der stetigen Nachfrage erfreuen. Zu der für Konzerte ungewöhnlichen Tageszeit nahm ich, nachdem ich mich im stillen Kämmerlein frühzeitig eingesungen hatte, die öffentlichen Verkehrsmittel in Anspruch, um zur Stadthalle zu gelangen. Auf dem Weg zur Haltestelle, summte ich weiter leise vor mich hin.
Text: Alkmini Laucke | Foto: Chris W. Braunschweiger
Das Konzert wurde begeistert aufgenommen. Viele der Besucher müssen sich zur Mittagszeit freigeschaufelt haben, um uns lauschen zu können. Als ich am Nachmittag schließlich erschöpft in der Straßenbahn saß, um wieder heim zu fahren, hörte ich eine Männerstimme singen. Es war nicht „meine“ praktizierende Musikrichtung, also kein Chanson, weder Tango noch Oper; es fiel wohl unter Soul, und es war richtig gut! Neben der offensichtlichen Lebensfreude hatte dieser Mann eine tadellose Diktion und Intonation vorzuweisen. Ich freute mich, dass er sang. Einige MitfahrerInnen drehten sich nach ihm um, aber es gab keine weiteren Reaktionen als ein Lächeln untereinander. Kurz ließ ich den Gedanken zu, was ich wohl tun würde, wenn sich jemand beschwerte.
Ich musste nicht lange darüber nachdenken, denn als die Bahn an einer Haltestelle hielt, schoss die empörte blonde Mitfünfzigerin aus ihrer für sie zu engen Kabine hervor und fuhr ihn an, dass es ihr nun reiche und sie ‚das nicht hören‘ wolle! Seine Frage, was sie denn habe, er würde doch nur singen, beantwortete sie mit der Gegenfrage: „Haben Sie Alkohol getrunken?“ Er war sichtlich verwirrt ob der Unterstellung und lud sie ein, bei seinem nächsten Konzert sein Gast zu sein. Daraufhin forderte sie ihn sichtlich überfordert auf, sofort die Bahn zu verlassen, die schließlich ihre Bahn sei!
Er erwiderte, dass er doch niemandem Leid zufüge, „…ich singe doch nur!“
„Ich möchte, dass sie Ihren Mund halten, sonst lasse ich Sie entfernen!“
Danach schwieg er.
Stille, als sie geradewegs von ihrem wohl einzigen großen Auftritt zurück in ihre zu enge Kabine ging und die Fahrt fortsetzte. Sie bekam nicht einmal Applaus. Das allerdings machte mir Hoffnung.
Ich stieg noch erschöpfter aus der Bahn, als ich mich ohnehin schon fühlte. Gerne hätte ich mich in jener Situation deutlicher positioniert. Aber vielleicht erreiche ich hiermit und das nachträglich mehr Menschen: Wie sehr haben wir uns an schwachsinnige, menschen- und fremdenfeindliche Dialoge gewöhnt? Wie abgestumpft nehmen wir schlechte Ausdrucksweisen, Schimpfwörter und abwertende Bezeichnungen auf und verwenden sie womöglich selbst? Wie oft hören wir geäußerte Bedrohungen und Verrohungen in der Öffentlichkeit? Und dieser Mann, der nichts tat außer zu singen, sollte aus der Bahn verwiesen werden?
Geht’s noch?!
Mit Blick auf diese arme Frau kann ich nur feststellen, dass sie viel von sich selbst Preis gab: Einen singenden Menschen mit Alkohol in Zusammenhang zu setzen, ist zumindest für Berufssänger so absurd!
Zahlt sie nach Feierabend eventuell viel Geld für eine Theaterkarte, in der sie dann, frei nach ihrer Schlussfolgerung, hoch alkoholisierte Sänger zu hören bekäme? Erzählte sie uns etwa verschlüsselt aus ihrem Leben, in dem es aus ihrem Munde eben nur im alkoholisierten Zustand und dann gelallte Lieder zu geben scheint? Was für ein Leben muss das sein, in dem ich singenden Menschen vorgebe, ihren Mund zu halten?
Ich jedenfalls habe mir vorgenommen, zwischen meinem Einsingzimmer und der Bühne viel öfter zu singen und mich nicht mehr dort nieder zu lassen, wo es keine Lieder geben darf.
Herzlichst.
Eure Alkmini