
Wir zusammen, Künstler sein
Auf dem Johannes-Selenka-Platz vor der HBK steht ein aschgrauer Klotz. Er wirkt abweisend, karg und schmucklos. Etwas ratlos stehen daher die Teilnehmer der Gruppe um dieses Objekt von Timo Hoheisel, betasten es und recken sich, um einen Blick in diesen mysteriösen Raum werfen zu können. Nur mit Mühe und mit Hilfe eines Trittbretts gelingt es einem von uns, seine Hand über die hohe Wand zu halten und siehe da: Aus dem Inneren erstrahlt ein geheimes Licht, dessen fruchtbare Quelle ungesehen und unerreicht hinter den Grenzen dieses Kunstgefängnisses verbleibt. Doch das Interesse steigt! Mit wachsender Neugier auf weitere Kunsträume beginnt am 30.10.2014 die Führung zum Projekt HOME Street HOME, einer von HBK-Studenten selbst organisierten Gruppenausstellung, die Kunst im öffentlichen aber auch ganz privaten Raum präsentiert und klassische Konzepte des Kunstmarktes in Frage stellt.
Text und Fotos: Stefanie Krause
Hier begegnet mir Kunst als Synergiebringer anstatt als Konkurrenzfeld – HOME Street HOME: Ein Projekt, welches die Werte des traditionellen Kuntmarktes nicht nur hinterfragt, sondern Grenzen wirkungsvoll einreißt. Und so ergibt es sich, dass ‚kreatives Netzwerk‘ und ‚kreative Gemeinschaft‘ meine beiden wichtigsten Stichworte zu HOME Street HOME werden, nachdem ich von der gelungenen Führung von Kunstwissenschaftlerin Stefanie Matjeka in die eigenen vier Wände zurückkehre. ‚Kreatives Netzwerk‘ und ‚kreative Gemeinschaft‘, was kann das im Kontext des bitter umkämpften Kunstmarkts bedeuten? Denn es geht bei HOME Street HOME ganz zentral „um die existenziellen Fragen, die jeden Künstler erwartet, der in die Kunstmarkt-Gegenwart geworfen wird“. So heißt es in der Ankündigung des HBK-Seminars „Ich allein, Künstler sein“ von Dorothea-Erxleben-Stipendiatin Alice Musiol, die in diesem Rahmen die Initiative zum Projekt angestoßen hat. „Und es geht um Lösungen“, lese ich weiter. Die Umsetzung von HOME Street HOME zeigt daran anknüpfend praktikable Wege auf und liefert Antworten auf Fragen wie „Was mache ich, wenn ich keine Förderungen erhalte, nicht die wichtigen Leute kenne und kein Geld für ein Atelier habe?“ (aus dem Seminarankündigungstext). So ist HOME Street HOME unabhängig von der Hochschule, ohne kuratorische Mithilfe entstanden und platziert Kunst ganz bewusst an Orten im öffentlichen und privaten Raum, jenseits von institutionellen Ausstellungsorten.
Dafür hat das Projekt großen Respekt und Aufmerksamkeit verdient – und auch bekommen: Auf meiner begleiteten Tour befinde ich mich in einer großen Gruppe Menschen, der ganz unterschiedlichen Altersgruppen angehören. Wir sind so viele, dass wir uns bei der Begehung mancher Austellungsräume in Gruppen aufteilen müssen, da einige ganz normale WG-Wohnungen eben viel zu klein sind für einen so großen Pulk Kunstinteressierter. Bereits hier entsteht eine ganz wunderbare Dynamik. Ich komme während des gespannten Wartens ins Gespräch. Kleine Grüppchen tun sich immer wieder neu zusammen, um sich dann gemeinsam in die Räume zu begeben. Die dort vorgefundene Kunst, die von Malerei, über Zeichnungen, von Objektkunst bishin zur Installation und performativen Darbietung reicht, wird auf ganz ungezwungene Weise zum Gesprächsthema zwischen mir und den mir bis eben noch vollkommen fremden Teilnehmern der Führung. Und auch die Künstler selbst sind meist vor Ort, zeigen und erklären ihre Kunst, die sie zum Teil zwischen Kleiderschrank und Bett, an Flurwänden und auf Küchentischen präsentieren. Ein natürliches, ganz unkompliziert an das Thema Kunst gebundenes, soziales Netz entsteht und der auf das einzelne Kunsterlebnis anschließende Weg zum nächsten Kunstraum wird zum philosophischen Gespräch.
Doch auch die Ausstellungstücke oder die Ausstellungsorte selbst scheinen das Vernetzende von HOME Street HOME zu spiegeln. In der Verknüpfung von privaten, öffentlichen und bereits bestehenden unabhängigen Gallerien werden die Gesetze des traditionellen Kunstmarktes konterkariert. Zum Beispiel stehen sich in einem unbewohnten Haus der Jahnstraße 11 zwei Positionen gegenüber, die konventionelle Ausstellungskonzepte innerhalb steriler „White-Cubes“ demontieren. In einer verlassenen Wohnung haben Sven-Julien Kanclerski und Carolin Steinkamp mit alten Möbeln und anderen vorgefunden Materialien eine Art Erinnerungsinstallation
geschaffen, die der ursprünglichen, traditionellen Nutzung der inzwischen zum Nicht-Ort gewordenen Räumlichkeit gedenkt aber gleichzeitig auch innovative Möglichkeiten der Nutzung solch ungewöhnlicher Orte für die Präsentation von Kunst durchdenkt. Ebenfalls in diesem Gebäude nutzt der Verein Flur 11 eine weitere leerstehende Wohnung bereits seit einigen Monaten für Ausstellungen und hat sich damit als ein neuer unabhängiger Kunstort in Braunschweig etabliert. Ein paar Häuser weiter befindet sich in der Jahnstraße 8a mit dem Kunstverein Jahnstraße eine zusätzliche selbstorganisierte Ausstellungsplattform, die am Tag von HOME Street HOME die laufende Ausstellung mit einem Projekt von Deborah Uhde ausdrucksstark verbindet. Die Werke des Künstlers Martin Salzer, der künstlerisch die Vergangenheit der Jahnstraße beleuchtet, fügen sich mit den von Deborah Uhde zusammengestellten Fotografien von Kindern zu einem wirkunsvollen Ganzen zusammen. Im Rahmen des Projekts Kunstkoffer haben Kinder aus der Jahnstraße überraschend präzise und ästhetisch sehr ansprechend ihre alltägliche Umgebung abgelichtet und spiegeln damit einen ganz anderen Blick.
Wie von selbst gelingt es HOME Street HOME die unterschiedlichen, bereits bestehenden Kunstorte in Braunschweig zu verknüpfen oder ganz neue zu schaffen. Die Kunst wird zum verbindenden Element und ist hier nicht der Stoff aufzehrender Konkurrenzkämpfe innerhalb elitärer und kunstdiktatorischer Strukturen! Und auch im ganz Kleinen spürt man die feinen Querverbindungen des weit verstrickten Netzes von HOME Street HOME. So ist beispielsweise das am Abend auf der Party angebotene vegane Chili zuvor Teil einer Kunstperformance gewesen. Phoebe Hartman hat es in ihrer mit schwarzem Papier und Lichteffekten zu einer Art temporären Kunst-Altarraum umfunktionierten Wohnung gekocht. Der Kunst wird in dieser Darbietung offenbar nicht nur demutsvoll(-ironisch?) gehuldigt, sondern Kunst wird hier auch Teil einer ganz pragmatischen Sichteise. Wie unkompliziert, schlicht und ergreifend gut (und dabei auch noch lecker!). Und noch etwas sehr Wichtiges ist mir aufgefallen: Während der Führung begegnen mir immer wieder bekannte Gesichter, die sich auf eigene Faust ihren Weg durch die Orte von HOME Street HOME gesucht haben und mit ihrer Anwesenheit beweisen: Dieses Projekt hat gekonnt den Blick über den Tellerand geworfen und viele damit erreicht! Selten traf ich so zahlreiche HBK-Externe auf einer Veranstaltung, die von HBK-Internen organisiert wurde!
So ist es wohl kein Wunder, dass ich auf dieser Kult-Tour eine unterschwellige aber deutlich wahrnehmbare Energie der Offenheit verspüre, die meiner Meinung nach für produktive Synergieeffekte, ideenreiche Netzwerke und gesundes Wachstum unabdingbar ist. „Das Projekt ist ganz natürlich gewachsen“, bestätigt mir Alice Musiol diesen Eindruck. HBK-Student Nils Peter schlägt bei einem späteren Gespräch in seiner gemütlichen Künstler-WG mit Wiebke Freytag ebenfalls in diese Kerbe: „Alles begann im recht kleinen Kreis und ist dann stetig größer geworden. Wir sind selber total überwältigt“. Schlussendlich haben die über 20 beteiligten Freien Künstler und Kunstwissenschaftler ein wahrlich beachtliches Großevent auf die Beine gestellt, dem es weder an Attraktivität während des Veranstaltungstages (von 11-20 Uhr konnten die 12 Standorte besucht werden, ab 17 Uhr wurden Führungen sowohl zu Fuß als auf mit dem Fahrrad angeboten), noch an dem passenden Rahmen und der notwendigen Kommunikation nach Außen mangelte. Die Pressearbeit, die Erstellung einer eigenen Webseite, die Aufnahme eines Audiowalks, die Präsentation der Kunst, das Management der Veranstaltung, die Organisation einer abschließenden Party und die vielen, vielen kleinen und dabei doch so notwendigen Tätigkeiten, die sich um eine solche Veranstaltung ranken – ALLES lag und liegt bei HOME Street HOME in den Händen der Studenten. Die Gemeinschaft hat hier offenbar blendend funktioniert: Sinnvolle Arbeitsaufteilung, autonome Lösungswege jenseits ausgetretener Pfade, innovative Organisationsstrukturen und kreative Gemeinschaftsarbeit. Alle Teilnehmer haben gleichzeitig an einem Strang gezogen und sich dabei dennoch mit individuellen Arbeiten profilieren können, ob es nun ein Kunstwerk oder ein Pressetext oder das Programmieren der Webseite ist.
Daher setzt die Praxis von HOME Street HOME dem aus dieser Perspektive eher wie eine kritische Frage wirkenden Seminartitel „Ich allein, Künstler sein“ eine mächtige Formel entgegen, die vielleicht lauten könnte: „Wir zusammen, Künstler sein!“ Weiter so, ich freu mich auf zukünftige Projekte im Stil von HOME Street HOME, denn das tut dem manchmal noch auf zu wackligen Beinen aufgebauten kulturellen Netzwerk in Braunschweig wirklich gut!
PS.: Ich habe so viele unterschiedliche Exponate gesehen, neue Orte entdeckt und interessante Menschen kennen gelernt, dass das alles nie in einem einzigen Bericht erwähnt werden könnte. Am besten ist, ihr schaut auf der WEBSEITE, wer noch dabei war und startet im Nachgang der Ausstellung eine virtuelle Kult-Tour durch HOME Street HOME. Viel Spaß!