
Telematisch-telepathischer Flug durch Raum und Zeit
Eine Seeschwalbe fliegt und setzt sich auf meine Schulter. Sie flüstert mir etwas ins Ohr – in einer mir unbekannten Sprache. Doch als ich die Augen öffne, sitze ich vor meiner Tastatur. Mit diesem Tagtraum zünden meine Gedanken zur letzten Veranstaltung, die ich in der Blackhole Factory besuchte. „Der Flug der Seeschwalbe“ ist nicht nur Teil meines rätselhaften Traums, sondern ein grandioses Live-Performanceprojekt, welches mich in verträumte Sphären und philosophische Gedanken über Zeit und Raum entführte. Einen Moment später tippen meine Finger geleitet von meiner Idee in die Tasten. Ein Text entsteht just auf dem Computerbildschirm und an diesem Punkt entwickelt sich dieser neue Bericht für Kult-Tour. Braunschweig, Sydney und New York verschmolzen in der Blackhole Factory zu einem zeitlosen Kunst-Stück, welches sich am 24. und 25.01.2014 in die Gegenwart und nun von der Vergangenheit in die Gegenwart meines Schreibens manifestiert.
Text: Stefanie Krause | Fotos: Jens Bartels/JayBe Photography
An diesem Samstag, dem 25.01.2014, haben wir einen der kältesten Tage dieses Winters. Es ist, als hätte die Welt den Herzschlag angehalten, um der Dynamik einer zeit- und raumübergreifenden Kunstidee die Möglichkeit der totalen Entfaltung zu eröffnen. Erstarrt ist die äußere Welt und ein klirrender Wind treibt trockene Schneewehen über die kaltschwarzen Straßen von Braunschweig, als ich mich auf meine Reise für den „Flug der Seeschwalbe“ in die Blackhole-Factory aufmache. Es ist schon dunkel, denn ich habe die Aufführung um 21 Uhr gewählt, um den orakelhaften Versprechen der Veranstaltungsankündigung während der Nacht auf den Grund gehen zu dürfen. Ich weiß noch nicht, was mich erwartet. Demnach möchte ich mit dieser Kult-Tour Licht in das Dunkel dieser geheimnisvollen Kunstaktion bringen. Dafür muss ich zunächst in die Tiefen der Bachhole-Factory in der Kunstmühle abtauchen, denn hier verstecken sich die Atelies der international agierenden Künstlergemeinschaft von Elke Utermöhlen, Martin Slawig und Martin Kroll. Im Inneren der Räumlichkeiten angekommen, spüre ich, wie meine Fingerspitzen mit einem leichten schmerzhaften Ziehen unter der Haut wieder auftauen. Denn hier herrschte eine wohlige Wärme, die die äußere Atmosphäre der erfrorenen Stadt ganz sanft aber entschieden zur Tür hinaus drängt. Die kalte Realität des Äußeren muss weichen für eine Erfahrung ganz besonderer Art. Alles ist bereit für den „Flug der Seeschwalbe“, eine multimediale und telematische Live-Performance aus Ton-, Foto- und Videoelementen, die sich nun in einem großen, abgedunkelten und mit vielfältiger Technik, Projektionsflächen und ungewöhnlichen Musikinstrumenten bestückten Raum der Kunstmühle entwickeln wird. Lichakzente in kühlen Blautönen, die von Violett- und Rotnuancen angewärmt werden, konturieren den Raum und beleuchten drei Schriftzeichen auf dem nackten Steinboden.
Es sind die Kürzel der drei Städte, die der „Flug der Seeschwalbe“ miteinander verbindet. Mit der Künstlergruppe „Blackhole Factory“ inszenieren der New Yorker Künstler Marc Sloan und Roger Mills aus Sydney diese Live-Performance. In diesem Kontext agieren sie miteinander und kommunizieren während der Aufführung via Internetverbindung. Die Farbe der Scheinwerferspotlights zeigt die jeweilige Temperaturen an, die gerade in Braunschweig, New York und Sydney herrscht, wird mir später erklärt. In Braunschweig ist es offenbar am kältesten – das kann man dem eisblauen Licht des Scheinwerfers entnehmen. An diesem sorgfältig hergerichteten Spielort nehmen ich und Kult-Tour-Neuzugang Jens Bartels, der heute den „Flug der Seeschwalbe“ fotografisch aufnehmen wird, wie Theaterbesucher auf einer Publikumstribüne Platz. In der düsteren Abgeschiedenheit dieses Sitzplatzes kann ich mich augenblicklich auf die momentan noch herrschende, vibrierenden Stille des Ortes und die unwirklichen Lichtimpluse der Projektionen und Scheinwerfer einlassen. Jetzt, zur letzten Aufführung der 24-stündigen Performance, haben sich leider nur wenige eingefunden, was diesen Moment noch irrealer und spezieller macht. Spätestens als sich die Tür hinter den letzten Gästen schließt und der erste abstrakte Ton aus den Boxen dringt, weiß ich jedoch, dass all Diejenigen etwas verpassen, die sich die Performance via Livestream im Internet anschauen. Diese Atmosphäre ist magisch! Es ist kaum in Worte zu fassen, was nun passiert. „Was zu sehen ist“, hat Matthias Bosenick von Krautnick jedoch bereits beschrieben. Er hat die Premiere einen Tag vorher besucht und mit seinem Text möchte ich meinen verbinden. Matthias sieht das gleiche Setting wie auch ich einen Tag später:
„Eine Bühne mit zwei großen Leinwänden, zwei Luftballons in der Mitte, drei Luftballons links, ein Tisch mit Equipment und einen Sessel links, ein Tisch mit Equipment und drei Lampen rechts. An dem Tisch links steht Elke Utermöhlen, an dem rechts Martin Slawig, die Video- und Übertragungs-Technik steuert Martin Kroll. Auf den linken der beiden mittleren Ballons ist Marc Sloan projiziert, der live […] mit Gitarren, Elektronik und Percussioninstrumenten arbeitet, auf dem rechten erlebt man Roger Mills, der in Sydney verfremdete Blasinstrumente beisteuert. Elke Utermöhlen singt und bearbeitet ihre Stimme live, und wenn sie sich unbearbeitet dazwischenmengt, erinnert sie angenehm an die von Lisa Gerrard.“ Eben diese Stimme leitet die jetzige Aufführung ein, die sich jedoch von den früheren unterscheidet, denn es gibt keinen starren Ablauf. der „Flug der Seeschwalbe“ ist ein Konglomerat aus sich dynamisch verändernden Video- und Fotoelementen, in sich verwobenen Tonebenen, stimmungsvollen Lichteffekten und live eingespielter Musik. Zentraler Punkt der Aktionen sind die Künstler, die durch diese veränderbare visuelle und akustische Welt steuern und ihre Aktionen auch live improvisieren. Sowohl Martin Slawig, als auch Marc Sloan und Roger MiIls sind mittels eines Sensors an einer Hand mit dem multimedialen Kunstwerk verbunden und fliegen im übertragenen Sinne eine Reise durch diese künstlerisch kontextualisierte Welt der Bilder und Töne, die mit dem Titel „Der Flug der Seeschwalbe“ bezeichnet ist. Mittels ihrer Handbewegungen navigieren sie über eine bewegliche, stilisierte Weltkugel mit Längen- und Breitenkreisen, die sich auf der linken Leinwand in intensivem Blau zeigt. Erweitert wird dieses Spiel von der Wahrnehmung des Publikums, der selbst zum Bestandteil dieses einmaligen Moments wird. Denn die Performance spielt mit den Assoziation und Empfindungen des Zuschauers, der sich manchmal nicht sicher sein kann, welchen Ursprungs die unterschiedlichen ästhetischen Ebenen sind. Nur manchmal setzt sich Elke auf den orangenen Sessel, der wie ein intellektuelles Zentrum der Performance wirkt und erklärt in Englisch und Deutsch, was während der Performance passiert. Zudem nimmt sie visuellen und sprachlichen Kontakt zu Marc Soan und Roger Mills via Webcam auf, so dass die beiden Künstler auf eine distanzierte aber dennoch gegenwärtige Art und Weise gleichzeit ab- und anwesend erscheinen.
So ganz verstehen tut man jedoch nicht sofort, wie sich die Performance in das Hier und Jetzt pojiziert. Was ist Livebewegung, was ist aufgenomme Bild- und Tonspur? Was ist von Gegenwart und was von Vergangenheit durchdrungen? Frage ich mich insgeheim und das finde ich auch gut so, denn so wird mir ein unvoreingenommes Erlebnis dieser komplexen Kunst ermöglicht. Man muss sich einlassen auf dieses unerklärliche Spiel und mitfühlen, mitsehen und mithören. Und auch körperlich spürt man die Präsenz des Kunstwerks, denn die Klänge sind zuweilen so düster-sonor und tieftonig-verzerrt, dass hinter mir ein Regal in einer finsteren Wand des Raums zu vibrieren beginnt und gruselige Quetschlaute von sich gibt. Ganz leicht spüre ich das Zittern auch in der Sitzbank. Umgebung, Körper und Geist werden im Einklang des Kunstwerks zum Schwingen gebracht und scheinen die Verbindungen der unterschiedlichen Ebenen nachzuvollziehen. Das führt dazu, dass ich mich und meine körperliche und geistige Existenz in einem ähnlichem transformativen Zustand wahrnehme, wie die Projektionen auf den beiden großen Leinwänden, die im Zentrum der Bühne die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Hier wechseln sich Videosequenzen mit Sprachaufnahmen und Fotografien ab, jedoch gibt es keine klaren Grenzen und Übergänge. Vielmehr durchdringen sich die Bilder, winden sich, verschwinden schneller als sie da waren und sind selten in sich hermetisch geschlossenen und klar zu erkennen, sondern integrieren während einer ständigen, richtungslosen Bewegung zumeist einen verpixelten Teil des vorherigen und darauffolgenden Motivs. Zwei Themen scheint sich visuell zu vedichten: Die Reise durch viele Regionen der Welt und immer wieder das Meer. Doch woher kommen diese Bildern und diese Veränderlichkeit auch auf der Tonebene? Die oft undefinierbaren Geräusche, die gleichermaßen aus der natürlichen wie auch technischen Welt entstammen könnten, sowie menschliche Sprachfetzen überschneiden sich in einem unregelmäßigen Wabern, werden leiser und lauter, vermischen sich und erfüllen den Raum. Dazu entlockt Elke Utermöhlen ihrer Stimme manchmal harmonische Passagen, manchmal verzerrt-abstrakte Geräuscheskapaden und holt damit den Zuhörer aus der entfernten Bilderutopie zurück in den tatsächlichen Raum.
Auch Martin Slawig macht Musik, doch seine Instrumente sind ungewöhnlicher Art. Mit fast meditativen Bewegungen regelt er an Knöpfen und improvisiert an Mischpulten, rührt in Metallschalen und erzeugt Rückkopplungsklänge, die sich im Mix der gesamten Klangimpression der Performance auflösen. All diese Komponenten machen den „Flug der Seeschwalbe“ zu einem technisch-entrückt und gleichzeitig organisch-lebendig wirkenden Stück Medienkunst. Ich bin begeistert und möchte mehr erfahren! Neugierig richte ich mich nach der Vorstellung an Martin Slawig. Müde, aber zufrieden sei er. Das kann ich verstehen, denn viel Schlaf war bestimmt nicht drin. In regelmäßigen Abständen von 5 Stunden wurde die Performance in Braunschweig der Öffentlichkeit vorgeführt. Dabei durchlief der „Flug der Seeschwalbe“ insgesamt 24 Stunden, damit unabhängig von den unterschiedlichen Zeitzonen jeweils ein kompletter Tageszyklus von den beteiligten Künstlern durchlebt wird. An den drei Orten Braunschweig, Sydney und New York spielte sich das Kunstwerk also während eines gesamten Tages ab, nur begann und endete das Spiel an jedem Ort zu einer anderen Tageszeit. Die Kunst verbindet damit unterschiedliche Orte und Zeitzustände und entlarvt Raum und Zeit als abstrakte Konstrukte, indem diese Begriffe innerhalb des virtuellen Raums des Kunstwerks verortet und neu definiert werden. Denn innerhalb der künstlichen Welt der Performance waren alle Künstler und das Kunstwerk selbst in einem dynamischen Prozess verbunden, der ganz eigenen Regeln von Raum und Zeit folgt. Zusammen haben sie eine zeitlich und räumlich neutralisierte Flugroute über die ganze Welt gesponnen, innerhalb des künstlerischen Konzepts die Grenzen von Zeit und Raum konterkariert und die „Entwicklung einer globalen Orientierung und damit einer Veränderung kultureller Identitäten“ reflektiert. Was für eine tolle Gelegenheit für das Braunschweiger Publikum mitzuerleben, wie innnerhalb der Gegenwärtigkeit der Aufführung von „Der Flug der Seeschwalbe“ Zeitzonenunterschiede aufgelöst und räumliche Distanzen überbrückt werden können.
Dabei entwickelt „Der Flug der Seeschwalbe“ eine Mystik und Eindringlichkeit, so dass sich zwischen allen Beteiligten – den Künstlern in Braunschweig, New York und Sydney, dem Publikum und auch dem Kunstwerk selbst als verbindende telematische Instanz – eine Art geheimnisvolle Verknüpfung aufbaut, die nicht den üblichen Gesetzmäßigkeiten wie Raum und Zeit unterworfen ist. Das Gefühl des Schwebens und der Entrückung von der manifesten Welt habe ich für mich persönlich noch verstärken können, denn: ich durfte selbst mal FLIEGEN! So streift mir Martin Slawig kurzerhand den Sensor, der an einem elastischen Armband befestigt ist, über das Handgelenk und leitet mit ein paar Erklärungen meinen Jungfernflug ein. Jetzt verstehe ich, woher die drei Hände auf den Luftballons stammen! Es sind Darstellungen der Hände der ‚fliegenden‘ Personen. Und nicht nur Martin Slawig aus Braunschweig, Marc Sloan aus New York und Roger Mills aus Sydney durften der Seeschwalbe auf ihrem Flug über die Ozeane und Kontinente der Welt folgen, auch Stef von Kult-Tour Braunschweig ist nun mittels einer sensorischen Verbindung Teil dieser Aktion geworden. Wie Adern führen die Kabel von dem Sensor an meiner Hand zu den technischen Geräten, die ein digitales Abbild meiner Hand auf einem der Ballons entstehen lassen und mich mit dem Flugapparat verbinden. Ich fühle mich von meinem Körper abgekoppelt und dennoch mächtig. Es fühlt sich an, als sei meine körperliche und geistige Existenz durch das Kunstwerk erweitert worden! Und: Ich kann fliegen! Durch eine Welt ohne Grenzen von Zeit und Raum! Aber so leicht ist das gar nicht – so habe Martin Slawig ca. 3 Wochen Übung gebraucht, um die Flugbewegungen gekonnt zu steuern.
Ich muss mich ebenfalls erstmal daran gewöhnen, wie die Technik meine tatsächlichen Bewegungen in virtuelle übersetzt und verliere kurz die Kontrolle – und irgendwie auch den Boden unter den Füßen, als ich mich plötzlich viel zu weit von der virtuellen, blauen Welt entferne! Meine Flugbahn kann ich auf der Leinwand mit der projizierten Welt nachvollziehen, über die ich jetzt sozusagen gleite. Die Projektion schlucht mich und ich versuche mich zu konzentrieren! Durch kurzes Schütteln meiner Hand aktiviere ich den Flugmodus und kann wählen, ob ich mich vor- oder rückwärts bewegen möchte. Aber es ist ein abgefahrenes Gefühl, wie die kleinste Handbewegung zu einem krassen Richtungswechsel führt! Ich kollidiere sofort ungewollt mit einer der bunten Kugeln auf der Projektion, weil ich selbstverständlich aus Aufregung und Übermut zu schnell geflogen bin. Doch Martin beruhigt mich, denn so ist es gedacht! Die Annäherung an die farbigen Kugeln bewirkt die Bilder-, Ton- und Videoeinspieler, die auf der rechten Leinwand erscheinen und abgespielt werden. Berührt man etwa mehrere Kugeln gleichzeitig, so vermischen sich die Bilder und Töne. Über diesen Weg entsteht dieser komplexe Mix aus sich überlagernden und sich gegenseitig durchdringenden Bild- und Tonebenen, von dem ich vorhin geichzeitig so beeindruckt und irritiert war! Diese Erkenntnis lässt mich staunend zurück! So manifestiert sich also die Performance „Der Flug der Seeschwalbe“ ins Hier und Jetzt des Moments der Aufführung! „Es ist ein wenig wie Malen“, bringt es Martin auf den Punkt, nur dass „Der Flug der Seeschwalbe“ kein fertiges Bild zum Ziel hat, sondern dem Publikum die Möglichkeit gibt, dem Entstehungsprozess des Kunstwerks beizuwohnen und live mitzuerleben, wie Kunst und Mensch zu einer Einheit werden.
Mich hat dieser Besuch in der „Blackhole Factory“ auf jeden Fall tief berührt. Ich verliere mich immer wieder gerne in Erinnerungen und Tagträume von meinem Flug mit der Seeschwalbe. Ich hätte das ewig weitermachen können! Nur muss ich schließlich irgendwann wieder zurück in die Realität, und dort ist es kalt und zugig…Zum Glück wartet der Bus bei diesen ungemütlichen Temperaturen auf mich, als ich einen gewagten Sprint zur Bushaltestelle hinlege und fast noch auf dem eisglatten Weg ausrutsche. Zum Glück ist alles gut ausgegangen und als ich in den Bus einsteige, meine ich einen sanften Luftzug an meiner Wange zu spüren. Der Flügelschlag der Seeschwalbe hat mich ganz flüchtig und doch so intensiv berührt, dass ich ihr wehmütig nachschauen möchte. Doch ich erblicke nur Dunkelheit. Sie ist auf dem Weg durch Raum und Zeit und sehen kann man sie nur in der Seele und im Geiste…
Oder in der Blackhole Factory! Denn Die Seeschwalbe fliegt wieder am 25. und 26. April 2014. Dieses Mal jeweils nur abends um 21 Uhr. Diese Information gibt mir Elke Utermöhlen just zur Sekunde via Mail. Zufall oder Telepathie? Nach dem Erlebnis beim „Flug der Seeschwalbe“ sage ich: Telepathie! Ich freue mich aufs nächste Mal und auf weitere Projekte aus einer wahren Traumfabrik!
Nächster Termin: 18.02.2014 | 20 Uhr | Club Instabil