
Rembrandts „Familienportrait“ – der Teufel und der Künstler
Es gibt Geheimnisse, die über Jahrhunderte hinweg niemand bemerkt. Eines dieser Geheimnisse steckt in dem „Familienportrait“ genannten Gemälde von Rembrandt im Herzog Anton Ulrich Museum. Über den Audioguide des Museums erfährt man, dass das Bild eine „glückliche Familie“ zeigt, doch beim genaueren Hinsehen erkennt man: Es zeigt ein Familiendrama! Und es ist gleichzeitig ein in jeder Hinsicht geniales Selbstportrait des Künstlers Rembrandt, das ohne Zweifel zu den wichtigsten Gemälden des Abendlandes gehört, vielleicht ist es sogar der größte Bluff der Kunstgeschichte. Doch wie kommt man zu dieser These?
Text: Lord Schadt
Zunächst einmal lohnt es sich, das Bild vorurteilsfrei zu betrachten.
Wir sehen auf den ersten Blick eine „glückliche Familie“. Doch sehen so „glückliche Familienmitglieder“ aus? Schon aus heutiger Sicht wirkt das absurd, denn welche Familie geht nachts in den Garten, pflückt Blumen und macht anschließend im Dunkeln ein Foto? Das Bild zeigt also vielleicht etwas ganz anderes, als die „glückliche Familie“, die wir gerne darin sehen möchten. Und um es zu verstehen, muss man wie Rembrandt denken.
Rembrandt hat das Gemälde rund ein Jahr vor seinem Tod gemalt. Er gehörte zu den besten Künstler seiner Zeit, und kein zweiter beherrschte die theatralische Inszenierung eines Gemäldes so gut wie er. Zu diesem Zeitpunkt waren seine Frau, seine Geliebte, seine drei Kinder gestorben und er lebte in Armut. Auf Deutsch gesagt: Er musste nichts mehr beweisen und hatte nichts zu verlieren.
Warum also sollte er eine Familie derart seltsam portraitieren. Und die Antwort liegt nahe: Das Bild zeigt gar keine Familie. Doch folgen wir einfach der Inszenierung des Bildes.
Zunächst fällt auf: Von der Komposition sieht man zwei in der Farbe, Beleuchtung, Komposition und Interaktion voneinander getrennte Szenen, die nur scheinbar zusammengehören:
Rembrandt inszenierte seine Gemälde oft wie Theaterstücke, bei denen unterschiedliche Szenen gleichzeitig stattfinden.
Szene eins zeigt einen Mann mit zwei Mädchen, Szene zwei einen Jungen mit einer Frau, vielleicht seiner Mutter. Man erhält also praktisch zwei Gemälde in einem. Und zum Verständnis beider benötigt man nur eine notwendige Klammer, und die steckt in dem Gesicht des Jungen, der den Betrachter aus zentraler Position direkt anschaut.
Wer ist dieser Junge? Man weiß von Rembrandt, dass er mehr als 90 Selbstportraits gezeichnet hat, viele davon in wertvollen Gewändern. Auch in seinen historischen Gemälden hat er sich oft als Beobachter in das Bild hinein gemalt, heutzutage würde man von Cameo-Auftritten sprechen. Könnte es daher sein, dass er sich hier selbst als Kind portraitiert hat?
Machen wir den Test! Zur Zeit von Rembrandt gab es noch keine Fotos, daher konnte er keine Kinderfotos für dieses Selbstportrait verwenden, was also hätte er getan? Vermutlich hätte er ein altes Selbstportrait verwendet und dieses einfach etwas kindlicher gemalt. Mit dieser Theorie können wir nun vergleichen:
Und mit Photoshop kann man diese Bilder auch einfach übereinander legen:
Das passt ein wenig. Wahrscheinlicher hingegen ist, dass Rembrandt dieses ältere Selbstportrait nicht mehr in seiner Werkstatt zur Verfügung hatte, und daher sein kurz vorher fertig gestelltes Selbstportrait als alter Mann als Vorlage verwendete, auch um den Bezug noch deutlicher zu machen:
Die Passgenauigkeit zwischen diesen Gemälden ist enorm: Gleiche Haltung, gleicher Blick, ähnlich sitzender Hut, graue Haare beim alten Rembrandt, weiße Schleppe beim Kind, sogar das Doppelkinn passt perfekt aufeinander. Ebenso kommt das Licht aus der gleichen Richtung.
Diese verblüffende Ähnlichkeit könnte natürlich ein seltsamer Zufall sein, aber Rembrandt macht es dem Betrachter leicht: In der rechten Hand hält das Kind einen Pinsel, der direkt auf den Namen „Rembrandt“ zeigt. Man muss schon blind sein, um einen solchen Wink mit dem Zaunpfahl zu übersehen.
Die Szene zeigt also Rembrandt als Kleinkind mit Pinsel, der von einer Frau (Rembrandts Mutter? Die Mutter der Töchter?) in Richtung der Szene zwei „geschubst“ bzw. gelenkt wird. Und diese ältere Frau blickt sorgenvoll auf die „Blumen“ im Korb. Kommen wir nun also zur Szene zwei:
Was sehen wir? Und beschränken wir uns erst einmal auf das Wesentliche:
Wir sehen einen schwarzgekleideten Mann mit Ohrring und Schnurbart, der nachts im Garten einem jungen Mädchen in Penishöhe eine dick-stielige Blume mit rotem Blütenkopf vor ihr Gesicht hält. Und da man spätestens hier gerne wegschaut, noch einmal zum Mitsehen: Wir sehen einen schwarzgekleideten Mann mit Ohrring und Schnurbart, der nachts im Garten einem jungen Mädchen in Penishöhe eine dick-stielige Blume mit rotem Blütenkopf vor ihr Gesicht hält. Vielleicht, nur ganz vielleicht, möchte uns der Künstler damit durch die Blume etwas sagen.
Und es gibt jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder Rembrandt hat in einem Anfall temporären Wahnsinns vergessen, wie man Bilder komponiert und Blumen malt und portraitiert ein dunkel-skurriles Familienidyll, oder die Szenerie zeigt genau das, was wir sehen, nämlich Pädophilie in der Bildsprache des 17. Jahrhunderts. Und ganz davon abgesehen, dass Botaniker solche dick-stieligen roten Blumen nicht kennen, wurde auch der Teufel in der damaligen Bildsprache oft in schwarz gemalt.
Doch schauen wir uns die Szene weiter an:
Das jüngere Mädchen schaut an der „Blume“ vorbei das ältere mit einem fragenden Blick an. Das ältere hingegen wirkt traurig, aus heutiger Sicht würde man sagen: „Sie hat ein verweintes Makeup“, und vermutlich hat sie schon selbst erlebt, was dem jüngeren passieren wird, denn in ihren Händen hält sie einen Korb voller „Blumen“, an dem sie sich festhält. Vielleicht schließt sie Augen, vielleicht schaut sie an dem jüngeren Mädchen vorbei, klar ist jedoch, sie macht nicht das, was man in einer fröhlichen Szenerie machen würde, nämlich: hinschauen!
Und mit dieser Sichtweise ergibt das Bild auch einen Sinn: Rembrandt zeigt ein Familiendrama, das damals unausprechlich war. Und Rembrandt als alter Künstler erklärt in einem Cameo-Auftritt seine Künstlerrolle: Mit einem humanistischen und humorvollen Lächeln klagt er das „Böse“ in der Welt an, in diesem Fall einen pädophilen Vater. Und als Chronist und Ankläger überschreitet er die Tabus seiner Zeit mit den Mitteln seiner Kunst.
Vielleicht ist dies sogar das Bild, mit dem er sich als „Kind verkleidet“ aus dieser Welt verabschiedet. Sicher ist jedoch, dass Rembrandt mit diesem Gemälde die Kunst seiner Epoche überschreitet und direkt in der Moderne landet: Der Hintergrund und die Kleider sind praktisch impressionistisch gemalt und waren ihrer Zeit um rund 250 Jahre voraus.
Wie bei jeder guten Kunst gibt es Fragen, die sich nicht letztgültig klären lassen.
Eines steht jedoch fest: Wir sehen nur das, was wir sehen möchten. Und vielleicht lächelt uns daher Rembrandt seit mehr als 300 Jahren als Kind verkleidet von diesem Gemälde an und sagt: „Schaut bitte her! Ich bin der Ankläger dieses pädophilen Mannes!“ Und sowohl das Selbstportrait, als auch das Portrait des Pädophilen sind derart geschickt in seinem Gemälde versteckt, dass es mehrere Jahrhunderte lang mit einem idyllischen „Familienportrait“ verwechselt wurde.
Ich stimme daher Lovis Corinths Meinung von 1920 über dieses Gemälde vollkommen zu:
„Wenn die Dresdener Galerie sich ihrer Sixtinischen Madonna rühmt, so lobe ich mir doch über alle Maßen dieses Bild des großen Rembrandt. Nur für dieses Werk lohnt sich allein ein Besuch Braunschweigs.“
Mit großem Dank an Peter Greenaway! Und ein großes Dankeschön an die Restauratorin Luz Helena Marin Guzman für anregende Gespräche und den Tipp mit dem Selbstportrait.
Lord Schadt M. A. ist Soziologe, Schriftsteller, Heilpraktiker für Psychotherapie und kulinarischer Tourguide bei eat-the-world.