
„Nah! Und?“ – Außergewöhnliches Tanztheater in Wolfenbüttel
Eigentlich hatte ich den Abend ja ruhig zu Hause verbringen wollen – doch die Ankündigung „außergewöhnliches Tanztheater“ lockt mich dann doch noch hinter dem Ofen hervor. Das Stück „Nah! Und?!“ am 10.09.2014 gehört zum Rahmenprogramm der Konferenz ISBA, die sich mit der Inklusion von Menschen mit Behinderungen im Alltag beschäftigt. Bei dem Tanztheater im Wolfenbütteler Lessingtheater sind 17 Darsteller mit ganz verschiedenen körperlichen und geistigen Voraussetzungen beteiligt.
Text: Manuela Kuhar | Fotos: DRK Integrations- und Therapiezentrum (ITZ) Wolfenbüttel, bereitgestellt von Thomas Stoch
Also nix wie los zum Lessingtheater in Wolfenbüttel! Vor der Tür steht dort schon Thomas Stoch, der Konferenz-Organisator, und bietet mir spontan einen Platz neben sich in der ersten Reihe an. Nach einem leicht panischen Blick (mit Sitzplätzen in der ersten Reihe habe ich *hust* gemischte Erfahrungen gemacht…) lande ich dann doch in der zweiten Reihe, neben einem blonden Mädchen mit knallblauen Socken, das sich lautstark auf die Vorführung freut.
Die Vorstellung läuft ab wie es bei zeitgenössischen Tanzperformances üblich zu sein scheint: Ohne Worte, ohne Erklärung, scheinbar unkoordinierte Bewegungen ohne Bezug zur Musik; immerhin sind die T-Shirts bunt und die Socken erst recht! Doch siehe da: Wenn man das Ganze einfach mal auf sich wirken lässt, beginnt nach dem ersten „Häh?!“ die Magie zu wirken, und der Tanz regt zu allerlei Assoziationen und Fragen an.
Da wäre zum Beispiel eine Darstellerin mit einem schreiend rosa Kunstpelzoberteil, die einen versteinerten Gesichtsausdruck zur Schau trägt. Doch irgendwie berührt mich ihr Tanz, gerade weil ihr eiskaltes Gesicht, ihre auffällige Kleidung und ihre weichen, gefühlvollen Bewegungen in so einem krassen Kontrast zueinander stehen: Wenn jemand eine so „coole“ Fassade zeigt, was verbirgt sich dann dahinter? Oft ist es ja ein verletzliches Inneres, ein unerfüllter Wunsch nach Nähe und Zugehörigkeit, eine Suche nach einem Platz im Leben.
Einen Platz sucht auch eine andere Darstellerin, die mit einer riesige Tasche und einer Strandmatte auf die Bühne kommt. Dort turnen gerade sämtliche anderen Darsteller synchron herum, nur die „Neue“ quetscht sich ungeschickt durch die Reihen und sucht nach einem Ort, wo ihre Matte hin passt. Ihr schwebt quasi ein Fragezeichen über dem Kopf: Wo passe ich im Leben hin, zwischen all den anderen, in dieser Leistungsgesellschaft, zwischen anderen Menschen, die vor sich hin funktionieren? Wie finde ich Akzeptanz, Aufmerksamkeit, Nähe? Pass dich an oder stirb? Und als sie endlich einen Platz gefunden hat und die anderen Darsteller zu sich auf die Matte einlädt, flüchten diese. Die nun einsame Darstellerin muss ein Mädchen quasi gewaltsam zu sich auf die Strandmatte ziehen. Dann drängt sie dem armen Mädchen auch noch Sonnencreme und eine Massage auf, mit einer absurd-umständlichen Aktion mit allerlei Verrenkungen und Grimassen, bei der nicht nur ich vor Lachen lospruste.
Bei aller Absurdität hatten diese und andere Szenen für mich auch eine tragische Aussage: Wer kann in unserer Ellbogengesellschaft schon noch mit echter Nähe umgehen? Muss ich mich verbiegen, muss ich allerlei Verrenkungen vollführen und meine Echtheit aufgeben, um Aufmerksamkeit zu bekommen und anderen nahe zu kommen – und was ist überhaupt echte Nähe?
Wer weiß, ob das nun „wirklich“ gemeint war – wahrscheinlich hatten die Choreografen sowieso etwas ganz anderes im Sinn, als die Zuschauer nun hineininterpretiert haben, und die Darsteller sowieso! Aber das finde ich ja gerade das Faszinierende an solchen Vorstellungen.
Es war auf jeden Fall mal etwas anderes! Das Stück wurde von der tanzbar_bremen einstudiert, ein Verein, der zeitgenössischen Tanz durch die Zusammenarbeit von beeinträchtigten und nicht beeinträchtigten Mitgliedern fördert. Also ich finde, das ist eine klasse Idee, weiter so!