Laclaque steht Kopf

Kunst, wo man Kunst erst nicht erwartet. Die Gliesmaroder Straße, man mag sie die geheime Grenze zwischen ‚bodenständigem‘ nördlichem und ‚piekfeinem‘ östlichen Ringgebiet nennen, streut Kioskgeschäfte, Kneipen, Friseurläden, Discounter und Imbissbuden in ihre langen Reihen schlichter Wohnhäuser. Doch folge ich eine Weile den Straßenbahnschienen, gelange ich zum Laclaque. Dieser „Raum für Performance“ ist ganz klein und dabei doch ganz groß! Heute beim Konzert von „Konkret zu Abstrakt“ eröffnet sich an diesem künstlerischen Brennpunkt Braunschweigs ein weltmännisch-urbanes Flair, welches nicht alltäglich ist. Oder habt ihr schon einmal etwas von Dada-Hall, Roto-Style, Cross-Dub und Digitaljazz gehört?
Text und Fotos: Stefanie Krause

Als ich mitten in der Pause des Konzerts vor dem umfunktionierten Ladengeschäft mit großer Fensterfront ankomme, wird Englisch gesprochen. Ein Tänzer vom
Staatstheater ist begeistert von dem Auftritt und spricht leidenschaftlich davon, selbst eine Performance im
Laclaque darzubieten. Offenbar brennt hier der Boden vor kreativer Energie und so spüre ich ein aufgeregtes Kribbeln der Neugier in mir aufsteigen. Von den großen Bühnen der Welt ist die ausgebildete Opernsängerin
Anette Stricker, die nun als Performancekünstlerin unter dem Madame Laclaque kreativ tätig ist, hier ins beschauliche Braunschweig gekommen – doch offenbar nicht ohne die Magie einer Weltbühne im Laclaque zu bündeln.
Gegründet hat sie diesen „Raum für Performance“ gemeinsam mit dem Fotografen Michel Lavignon, um ein „Forum für eigene Produktionen“ und ein „Ort für den kreativen Austausch von Künstlern unterschiedlicher Professionen“ zu erschaffen. Dabei strickt sich das Prinzip des Experiments als ein roter Faden durch die Aktionen dieses kleinen Kunstbiotops.
So passt der Auftritt von
Konkret zu Abstrakt wunderbar ins Konzept, denn was hier musikalisch gestrickt wird, ist bestimmt kein klassisches Zopfmuster. Das übersteigt alles, was ich bisher an experimenteller Musik gehört habe.

Nun, es gab an der
Hochschule für Bildende Künste einige Klangkunsteskapaden, die es durchaus mit Konkret zu Abstrakt aufnehmen könnten, doch das interessante an dieser Klangkunst ist: Es geht immer noch um Musik. Sagen wir: Der Begriff ‚Musik‘ wird hier konterkariert und fast bis zur Unkenntlichkeit zerstückelt, um in der Neuformation der Klangteilchen die musikalische Schönheit zu intensivieren. So sperre ich also meine Hörorgane und meinen Geist weit auf, um diesem transfomierten Musikneukonstrukt den Weg in mein Herz zu öffnen. Ich sitze im Halbkreis mit ca. 10 weiteren Gästen (die das Laclaque aber schon gut füllen können) um die drei Musiker, die nun unvermittelt ihr Klangexperiment weiterspinnen.
Die elektrische Gitarre von Nils Schumacher dominiert zunächst das Hörerlebnis und durchschneidet die Luft mit sägenden und heulenden Klangabstraktionen. Dazu passend verzerrt der Gitarrist sein Gesicht, als spiele er ein Heavy Metal Solo, und agiert mit dem ganzen Körper, um den Lauten seines Instruments Nachdruck zu verleihen. Seine Silhouette zeichnet sich manchmal in der Videoprojektion ab,

die die musikalische Aufführung visuell begleitet und diese Veranstaltung zu einem multimedialen Zwitterwesen mutieren lässt. Klang und Bewegtbild gehen eine Einheit ein, wie auch der Spieler mit seiner Gitarre zu verschmelzen scheint. Einer schwarzen Scherenschnittfigur ähnlich erblickt man ihn als ein Kombinat aus Mensch und Seiteninstrument im hellen Licht der Videoprojektion, welches bildliche abstrahierte Fahrten durch Straßen und Stadtansichten an die Wand wirft. In die schräge Gitarrenklanglinie setzen dann plötzlich merkwürdige Tonexplosionen ein, deren Ursprung zunächst von Ohr und Auge eruiert werden muss. Es ist Ralf Haarmann, der hier immer wieder den Fluß des schwingenden Gitarrenspiels unterbricht, anstatt ihn rhythmisch zu unterstützen, dazu verwendet er „Melodikas, Luftballons, Mandolinen, Geigenbögen, Klanghölzer, Rückkopplungen und Fundsachen“ und experimentiert in Echtzeit mit den entstehenden Lauten. Mittels elektronischer Manipulation zerfrisst er die unterschiedlichen Klangebenen, sampelt diese und loopt sie, um sie möglichst dort zu platzieren, wo sie melodisch gar nicht hinpassen. Erst in der absoluten Dekonstruktion ergibt sich in diesem Sound eine eigenartige Harmonie.

Doch auch diese sich anbahnende Zusammenkunft der Klänge wird erneut unterbrochen. Frank Niehusmann holt weit aus und schlägt mit Nachdruck auf seine E-Drums ein. Erwartet man aber hier einen akzentuierten Ton, wird man sogleich akustisch aus der Bahn geworfen. Hier wird am meisten die Hörerfahrung des Rezipienten irritiert, denn trifft Frank Niehusman auf ein Feld seines Klangapparats, ertönt anstatt eines Schlaggeräuschs ein langgezogenes Zischen, Klappern, Rauschen oder Dröhnen: Hier wurden im Vorfeld „Klänge von Baumaschinen, Küchenunfällen, Klavierakkorden oder extra-terrestrischen Signalen“ aufgenommen und erscheinen nun als Klangunfälle des Sounda von Konkret zu Abstrakt, die ao einer Massenkarambolage auf der Autobahn gleichkommt. Auch die Wirkung auf das Publikum ist verlgeichbar mit einer solchen Situation: Eigentlich ist es viel zu schrecklich, aber man muss trotzdem hinhören.
Manchmal meint man Klänge des Jazz herauszuhören, doch sobald man sich darauf konzentieren möchte oder gar der Fuß mitzuwippen beginnt, ist das Bekannte schon wieder auf ein nimmer Wiederhören vergangen. Zu allem Überfluss steigt in diese musikalische Unübersichtlichkeit nach einer Weile Madame Laclaque mit ein, die ihre Stimme auf beeindruckenden Weise zu modellieren weiß. Dies lässt sich nicht mit dem Wort „Gesang“ beschreiben, vielmehr benutzt Madame Laclaque ihr Stimmorgan wie ein Instrument, welches auf ungewöhnliche Weise gespielt wird. Ohne erkennbare Sprache malt sie mit ihrer Stimme imaginäre Bilder an die Wand und lässt sie durch den Raum schweben. Dabei blickt sie gebannt auf die Videoprojektion, als wolle sie die dort zu beobachtenden Straßenfahrten mit ihrer Stimme beschwören. In Kombination mit den mal leisen mal lauten Knack-, Zisch- und Trälleraneinanderreihungen ihrer Mezzo-Sopran-Stimme scheint das Bild erneut manipuliert und noch weiter von der Realtität entfernt zu werden. Die vier Musiker agieren auf eine disharmonische Art und Weise miteinander, die mit der Bezeichnung „Konkret zu Abstrakt“ nicht besser zu beschreiben wäre. Jegliche in dem spontanen Zusammenspiel aufkommende Melodie und der kleinste Anflug von klaren Rhythmusstrukturen werden sofort von einem der Musiker „konsequent abgebrochen“, erklärt mir Michel nach dem Konzert. Konsequent durchbrochen werden damit im Umkehrschluss jegliche Hörerfahrungen des Publikums. Über diesen Weg kann Musik ganz neu gedacht, gefühlt und erfahren werden, denn im Laclaque wird nicht nur die an der weiß getünchten Altbau-Decke aufgehängte Schaufensterpuppe auf den Kopf gedreht.