
Europäische Kulturbaustelle Århus
Baustellen, wohin man blickt. Indes, von der Europäischen Kulturhauptstadt, als die das Dänische Århus in diesem Jahr gleichzeitig mit dem Zypriotischen Paphos (Πάφος) gilt, nimmt man so gut wie gar nichts wahr. Die spannendsten Dinge erlebt man auch ohne dieses Label. Eine Stippvisite in die Stadt mit dem Kleiner-Bruder-Komplex, den überdurchschnittlich vielen alternativen Plattenläden und dem begehbaren Regenbogen von Ólafur Elíasson.
Text und Fotos: Matthias Bosenick
Völlig aufgewühlt stellt sich die Stadt dar. Der Hauptgrund ist der Plan, in Århus und Umgebung nachträglich ein Straßenbahnnetz einzurichten, die Letbane, Leichtbahn. Ende des neunzehnten Jahrhunderts gab es für eine kurze Zeit schon einmal eine Straßenbahn in Århus, eine von Pferden über die Schienen gezogene, und seit 2012 will die Stadt mit der Letbane an diese gloriose technische Historie anknüpfen. Gute Idee, wenn man als designierte Kulturhauptstadt scharenweise Gäste erwartet; blöde Idee, wenn man bis dahin nicht fertig wird; egale Idee, wenn das dünne Konzept zur Kulturhauptstadt ohnehin nicht dafür ausreicht, scharenweise Gäste anzulocken; wiederum doch blöde Idee für diejenigen Gäste, die Århus dann trotzdem besuchen.
Århus 2017 ist nicht durchgehend schön. Es hat natürlich wundervolle Ecken, aber wo es nicht zerwühlt ist, wuchert moderne Architektur mit Fremdschämfaktor, die das Gesamtbild zerhaut. Die beste Idee war es gewesen, den erst 1930 überbauten Fluss Århus Å bis 2009 wieder weitgehend freizulegen; an beiden Ufern säumen sich jetzt Cafés und Restaurants, was im Dunkeln sehr hübsch anzusehen ist, aufgrund seiner Zentrumsnähe bei Lichte betrachtet aber massentauglich durchdesignt und viel zu teuer. Dennoch, das Stadtbild verbesserte sich ungemein. Zu sehr offensichtlich, denn gegenwärtig steuert man frischen Muts dagegen an.
Am Hafen etwa entstehen Luxuswohnungen, in Gebäuden wie dem Isbjerget, dem wie ein namensgebender Eisberg gestalteten weißen Wohnkomplex mit eisblauen Applikationen, der für sich betrachtet sicherlich ganz hübsch ist, aber von hässlichen grauen Betonbrocken flankiert wird, die ebenfalls Luxuswohnungen enthalten. Das erinnert konzeptionell zudem sehr an Havneholmen, die teuren Neubauten, die Kopenhagen sich zwischen Fisketorvet und Islands Brygge in den Kanal setzte. Was in der Hauptstadt funktioniert, nämlich alte mit zeitgenössischer Architektur zu verknüpfen, ohne dabei unansehnliche Fremdkörper ins Stadtbild zu verpflanzen, schlägt in Dänemarks zweitgrößter Stadt Århus fehl.
„Århus hat den Kleiner-Bruder-Komplex“, bestätigt mir der Verkäufer in einem von sechs Plattenläden, die ich statt eines Kulturhauptstadtkulturprogramms aufsuche, genau diesen Eindruck. Kopenhagen wühlt nachträglich eine Metro durch den Sand, Århus braucht die Straßenbahn. Kopenhagen baut im Meer, Århus zieht nach. Kopenhagen war 1996 Kulturhauptstadt, jetzt ist es Århus. Kopenhagen ist attraktiv genug für zwei Leben, für Århus reichen zwei Tage.
So ganz stimmt das natürlich nicht, oder besser: Es stimmt nur deshalb, weil ich nicht zum ersten Mal hier bin und mir einiges Spannendes dieses Mal sparen kann. „Den gamle by“ etwa, das Freilichtmuseum „Die alte Stadt“, kenne ich bereits. Jetzt reizt mich noch ARoS, das nach dem wikingischen Namen der Stadt benannte Kunstmuseum, für das der Halbdäne Ólafur Elíasson 2011 den begehbaren Regenbogen „Your Rainbow Panorama“ erschuf. Das kann man ja mit der Kulturstadt kombinieren.
Von der nehme ich bei meinem Stadtrundgang am ersten Abend wahr: in willkürlichen Abständen in den Fußweg eingelassene graue Betonplatten mit der Inschrift „Aarhus 2017“ (man verwendet in Dänemark häufig mehrere Schreibweisen von Eigennamen), einen gigantischen Banner an einem Silo im Hafen nebst einem geschlossenen Infocontainer sowie zwei Wimpel an irgendwelchen Fahnenmasten. Und das, Damen und Herren, war es. Die eigens errichtete Touristeninformation namens „Dokk1“ (gesprochen: „Dock Itt“) halte ich zunächst für ein extrovertiertes Parkhaus, meine Gastgeberinnen belehren mich eines Besseren. Ohne die beiden hätte ich drei weitere Attraktionen gar nicht wahrgenommen: einen Spielplatz als Kunstobjekt, einen „Dom der Visionen“ und das Moesgaard- (oder auch Moesgård-)Museum.
Der nächste Tiefschlag kommt bei der späten Speisewahl: Nach 21, 21.30 Uhr gibt es in der Kulturhauptstadt keine warme Küche mehr, jedenfalls keine zu halbwegs goutierbaren Preisen oder jenseits von Schnellimbissen. Was soll’s, zwei Bier sind auch Stulle und kosten ebenfalls ein kleines Vermögen, über zehn Euro pro halbem Liter Gezapften (man beachte: Schweden gehen in Dänemark saufen, weil es dort billiger ist). Die gemütliche Raucherkneipe dazu finde ich im Latinerkvarteret, dem alternativen und ältesten Viertel in Århus; das wiederum hat es im Positiven mit dem großen Bruder gemein, denn auch im Kopenhagener Latinerkvarteret tummeln sich die Studenten.
Dann sei der nächste Tag eben mit dem Besuch der Touristeninformation begonnen. Auf dem Weg liegt der „Dome Of Visions“, auf einer schlammigen Schutthalde am Hafen. Die Domkuppel birgt Ideen für eine Gesellschaft der Zukunft und diverse exotische Pflanzen, darunter sogar Feigenbäume. Gottlob ist es noch bewölkt, sonst wäre die Temperatur in der Kuppel nicht auszuhalten gewesen. Das integrierte Café heißt „Bucky“, wegen Richard Buckminster Fuller, nach dem die Molekülstruktur Buckminsterfulleren benannt ist, nach der wiederum der Dome gestaltet ist. Und nicht etwa nach einem Iglu, wie ein vorwitziges Kind im Gästebuch meinte. Hier lässt sich der Kaffee genießen, der Ausblick auf das Wasser und das Stadtpanorama ebenso. Doch zur Kulturhauptstadt zählt der „Dome Of Visions“ nicht: Es handelt sich um ein Wanderprojekt der Entrepreneurfirma NCC.
Im „Dokk1“ decke ich mich mit dem Halbjahresprogramm der Kulturhauptstadt und einer Straßenkarte ein. Im Programm entdecke ich für meinen Aufenthaltstag: genau eine Veranstaltung, und die ist lediglich eine semioffizielle Vorbereitung für eine Hauptveranstaltung Ende Mai. Dabei handelt es sich um „Nukiga“, ein „Mini Festival for Greenlandic Culture“, also eigentlich etwas Interessantes, wenn man bedenkt, wie das halbautonome Grönland bisweilen von seinem Stiefmutterland Dänemark behandelt wird. Die bereits laufenden Veranstaltungen oder Ausstellungen, die auch den heutigen Tag abdecken, sind beinahe sämtlich außerhalb von Århus gelegen.
Gottlob hat das ARoS mittwochs bis 22 Uhr geöffnet, das ergibt vorher ordentlich Zeit für den Plattenladenbummel. Badstuerock, Dandelion Records, das neu eröffnete Reverb Vinyl, Bogshoppen, das Vinylrock Café, Route 66 (gibt’s auch in Kopenhagen) mit der Second-Hand-Abteilung Black Light Records (und das sind noch längst nicht alle): Hier finde ich Dänische Alben sowie im Internet teuer gehandelte Record-Store-Day-Releases und bekomme Geschichten erzählt. Erfreulich ist, dass sich sämtliche Betreiber untereinander kennen und sogar gegenseitig empfehlen. Zwischen den Shops kehre ich im kostenlos zugänglichen Wikingermuseum und im Dom ein, von dem ich noch weiß, dass im gigantischen Kirchenschiff ein gigantisches Kirchenschiff von der Decke baumelt (das ist in skandinavischen Kirchen üblich) und dass an einer Wand ein großes mittelalterliches Gemälde von Sankt Georg zu sehen ist, der einen eigentlich recht possierlichen Drachen tötet (auch Fabelwesen in Kirchen sind keine Seltenheit in Skandinavien).
Eine Portion Lakritzeis, dann endlich ins ARoS. Gleich als erstes erklimme ich den zehnten Stock, Elíassons Farbkreis, den begehbaren Regenbogen. Rund 150 Meter Umfang hat dieser Kreis, dessen Glasscheiben die Farben des Spektrums abbilden und so die Stadtkulisse optisch verfremden. Solche physikalischen Spielereien sind ein wiederkehrendes Sujet bei Elíasson; auch in Wolfsburg und Goslar waren seine raumabdeckenden Licht- und Farbinstallationen schon zu sehen. Ein Spaziergang hoch über der Stadt bei Sonne und wechselnden Farben verändert das Gemüt und die Wahrnehmung; außerdem sieht es wunderschön aus. Die eigentliche Ausstellung erstreckt sich zeitlich von vor 400 Jahren bis heute und über acht Stockwerke bis in den Keller. Die Exponate sind thematisch sortiert; hier finden die intensiven Werke der Skagen-Maler ebenso ihren Platz wie die erschreckend lebensechte Skulptur eines fünf Meter großen kleinen Jungen; „Boy“ von Ron Mueck erklomm in den ARoS-Publimums-Charts den zweiten Platz nach dem Regenbogen. Im Keller durften Künstler „Neun Räume“ gestalten; hier finden sich zwei weitere großartig-einfache Arbeiten von Elíasson sowie eine wunderbar diffuse Lichtinstallation von James Turrell. Zum Sonnenuntergang drei Stunden später (nur mit Eile schaffe ich die gesamte Ausstellung in so kurzer Zeit) erklimme ich erneut den Regenbogen und erlebe die farbenfröhlichste Dämmerung meines Lebens. Dafür haben sich die 18 Euro Eintritt gelohnt.
Zwischen ARoS und dem hässlichen Rathaus finde ich zwei weitere zierliche Kulturhauptstadtwimpel und den Kunstspielplatz, von dem mit meine Gastgeberinnen erzählten. Sie waren sich zwar unsicher, ob das Objekt wirklich mit der Kulturhauptstadt zu tun hat, lagen damit aber richtig. „My Playground“ von Gustin Landscape besteht aus mehrseitigen weißen Objekten, aus denen Licht und Geräusche dringen und die von jedermann zu begehen, betasten und bespielen sind. Dieses Ensemble soll während des Kulturjahres durch diverse jütländische Städte rund um Århus wandern. Ich wandere auch, und zwar weiter. Bier suchen, weil essen ist gegen 22 Uhr ja nicht mehr.
Meine letzte Station ist am folgenden Tag das von einer meiner Gastgeberinnen, die hier als studentische Kraft tätig ist, empfohlene Moesgaard-Museum südlich von Århus. Es ist dem Herrenhaus Moesgaard und dem Kattegat (und nicht etwa der Ostsee, das nimmt man hier ganz genau) angegliedert und keilförmig in die Landschaft gefügt. Es zeigt interaktiv und raumgreifend die Dänische Geschichte rund um Bronze-, Eisen- und Wikingerzeit (das Wikingermuseum in der Stadtmitte von Århus ist eine Dependance des Moesgaard-Museums) sowie in einer Sonderausstellung etwas über Totenkulte. Obwohl die Ausstellungen modern angeordnet sind und also recht viel Platz lassen, dauert das Durchhetzen ebenfalls diverse Stunden, selbst wenn man sich die zahllosen Interviewfilme mit Wissenschaftlern nicht anguckt, die die Exponate erläuternd ergänzen. Zwischen Museum und Herrenhaus ist eine Freilichtbühne errichtet, auf der unverkleidete Schauspieler das für die Kulturhauptstadt verfasste Theaterstück „Røde Orm“ proben, nach dem Roman „Röde Orm“ des Schweden Frans G. Bengtsson, den ich einst für wenig Geld auf einem Flohmarkt fand und begeistert las, nicht wissend, dass die Story aus den Vierzigerjahren in Skandinavien noch heute von einiger Popularität ist. Es gibt sogar einen Comic, der sei aber nicht erschwinglich, sagt mir der sympathische Kassennerd. Dem Museum kann man aufs Dach steigen und die herrliche Landschaft genießen, wenn nicht sogar Kaffee und Gebäck.
Den größten Eindruck der Kulturhaupstadt Århus machen also die permanenten Einrichtungen. Viele Teile des Kulturhauptstadtprogramms finden im Großraum der Großstadt statt; stattgegeben, das war in Luxembourg 2007 auch so, das sein Programm sogar in die Anrainerstaaten ausweitete, aber anders als in Århus hat man dort die Kulturhauptstadt überhaupt wahrgenommen und sogar Ausstellungsorte eigens dafür ins Leben gerufen. Dezentral war auch Essen 2010, nämlich über das gesamte Ruhrgebiet verstreut und damit thematisch nachvollziehbar und allerorts ausgewiesen (für das Jahr hatte sich seinerzeit auch Braunschweig beworben, und zwar unter demselben Ex-NPD-Mann, der zuvor grundlos das einzige soziokulturelle Zentrum der Stadt abreißen ließ). Ähnlich chaotisch wie Århus war 1999 Weimar, das vor lauter Glück, einen Goethe bei sich im Bauhaus wohnen gehabt zu haben, diverse im Programm angekündigte Veranstaltungen oder gar Veranstaltungsorte gar nicht rechtzeitig vollendet bekommen hatte. In Stockholm 1998 konnte man sich recht lang ohne Langeweile aufhalten, Kopenhagen 1996 war in Sachen Kulturhauptstadt in meiner Wahrnehmung bislang unübertroffen. Und auch sowieso, aber das ist ein anderes Thema. Århus fehlt das Konzept, es fehlt die Kunst im öffentlichen Raum mit temporären Installationen etwa, es fehlen Banner und Wimpel, es fehlen schräge Ideen, Abseitigkeiten, Happenings; das meiste Angebotene wirkt wie das Kulturprogramm einer mittelkleinen Provinzstadt, die Århus ja nun auch ist. Nicht einmal die freie Kulturszene heftet sich an die Kulturstadtsache und ergänzt oder konterkariert sie.
In Århus ist „Kulturhauptstadt“ nicht mehr als ein Label, das womöglich Geld bringt, aber sonst keine Relevanz hat. Vielleicht sieht das im teilnehmenden Umland ja anders aus, die Hauptstadt gibt jedoch ein armseliges Bild ab. Es wäre sicherlich interessant, herauszufinden, was der Kulturstadtpartner so zu bieten hat. Kommt jemand mit nach Πάφος?
Links:
Kulturhauptstadt Hauptlink: www.aarhus2017.dk/en
Aros-Museum: de.aros.dk
Dome of Visions: domeofvisions.dk
Moesgaard-Museum: www.moesgaardmuseum.dk