
Die Stadt auf (zwei) Rädern
Ein kühler Sommertag am Hauptbahnhof, wie von Geisterhand setzen sich über 300 Menschen auf ihren Fahrrädern in Bewegung. Sie sind die „Critical Mass Braunschweig“, so heißt sie, die monatlich organisierte Fahrraddemo quer durch unsere Stadt. Der Song „Bicycle Race“ von Queen scheint an diesem Tag ein geheimes Zeichen zum Start zu sein. Wie passend! Einer der Organisatoren auf einem Liegefahrrad zieht eine kleine Anlage hinter sich her, aus der auch die kommenden Stunden der Soundtrack zur friedlichen Demo für die Rechte der Fahrradfahrer im Straßenverkehr dringen wird.
Text: Stefanie Krause | Fotos: Jens Bartels/JayBe Photography
Blicke werden ausgetauscht und man schwingt sich in den Sattel. Alle verstehen scheinbar wortlos, dass es jetzt losgehen kann. Schaltungen klickern, Profile der unterschiedlichsten Fahrradtypen summen mit dem sich langsam steigerndem Tempo über den Asphalt und geben der Masse ihren ganz eigenen Klang. Ab und an streift mich ein anderer Song, denn mehrere Radler haben kleine Musikboxen an ihren Lenkern oder Gepäckträgern angebracht und so unterschiedlich die Musikrichtungen sind, so vielfältig ist auch die Gruppe der Teilnehmer. Um sich an dieser Demo zu beteiligen, muss man kein klassischer Aktivist sein. Hier fahren Menschen aus ganz unterschiedlichen Generationen und Gesellschaftsschichten nebeneinander her, die sich sonst wohl eher selten über den Weg laufen würden – oder fahren, je nachdem. Ich sehe den älteren Herrn auf seinem bepackten Trekkingrad, den Hipster auf seinem celestegrünem Rennrad, den coolen Mountainbiker, die Studentin auf ihrem bemalten Hollandrad, die Oma auf ihrem gemütlichen Stadtrad und den Vater mit seinem kleinen Sohn, der von einem Helm geschützt ganz schön gewagte Kapriolen fährt.
Doch auch die Masse gibt uns allen dort ein Gefühl von Schutz, wo man sich sonst als Radfahrer oft unsicher und nicht ausreichend beachtet fühlt. Als zusammenhängende Gruppe dürfen wir mitten auf der Straße fahren und die Autos müssen diesmal warten. Diese große, bunte Gruppe können sie nicht übersehen oder ignorieren. Toll, dass in Braunschweig jetzt auch schon seit einigen Monaten eine solche Aktion existiert! Bereits im Jahr 1992 hat sich in San Francisco die Critical Mass Bewegung gegründet. Ihr Ziel war es damals wie heute, auf die Dominanz des Automobils im Straßenverkehr und die Vorzüge des Fahrrades als individuelles Fortbewegungsmittel hinzuweisen. Außerdem soll mit dieser Aktion für einen respektvollen Umgang unter den Verkehrsteilnehmern geworben werden. Das Motto der Braunschweiger Demonstrationen lautet daher: „Wir behindern nicht den Verkehr, wir sind der Verkehr!“ Für einen reibungsglosen Verlauf gibt es aber auch hier Regeln, die ihr hier einsehen könnt. Doch von meinem ersten Eindruck her läuft alles ganz schön glatt. Jeder Einzelne ist aufmerksam und achtet auf die Menschen neben, hinter und vor ihm. Das muss man auch, denn sonst käme es schnell zum Zusammenstoß. So wird das Fahren in der Critical Mass zu einer sehr bewussten Angelegenheit. Die rollende Gruppe scheint eine eigene innere Struktur zu haben, eine eigene Psychologie. Ohne konkretes Ziel ist doch die gemeinsam Sache präsent.
Dabei ist die Masse bestimmt nicht anonym, immer wieder sehe ich bekannte Gesichter und lerne neue Leute kenne, die kurz mal neben mir fahren. Und da hinten, ja doch, da auf den Rücken eines Mitfahrers erkenne ich doch die kleine gelbe Ukulele des Folkmusikers, den ich mal im Park auf einer Kult-Tour traf. Ich trete in die Pedale, um schnell zu ihm aufzuschließen. Mit einem fröhlichen Hallo begrüßen wir uns, er hat den kürzlich veröffentlichten Videoblog über unser musikalisches Treffen im Prinzenpark schon gesehen. Und auch hier bei der Stadtrundfahrt will er wieder im öffentlichen Raum spielen. Kommt die Masse zwischendurch kurz zum Stehen, greift er sein knuffiges Musikinstrument und trägt ein kleines Ständchen vor. Livemusik – mitten auf der Straße – zwischen lauter Radfahrern – manchmal ist Braunschweig wirklich klasse! Ja, es macht einfach Spaß in gemütlichem Tempo durch die Stadt zu cruisen. Sorgen, schlechte Laune und Lustlosigkeit lösen sich beim Fahren in der frischen Stadtluft auf und es ist interessant, die Menschen zu beobachten.
Besonders als wir beim Staatstheater ankommen, wird mir deutlich bewusst, wie viele wir doch sind. Jetzt gibt es keine Anfang und Ende mehr, denn um das Staatstheater herum schließt sich der Kreis. Dieses Bild würde ich zu gerne von oben sehen! Dann schließt sich plötzlich ein Pizzabote auf dem Rad der Masse an und dreht mit uns eine Runde um das Theater, um dann flink weiter seinen Weg zu verfolgen. In diesem Moment wird deutlich, wie viel wendiger und flexibler man in der Stadt doch mit dem Fahrrad ist. Die Autofahrer hingehen müssen warten. Doch die meisten warten geduldig und ich glaube, in den seltenen Hupkonzerten nicht Ungeduld herauszuhören, sondern vielmehr eine Form von Applaus für unsere Aktion. Na ja, vielleicht bin ich auch gerade durch das Erlebnis viel zu beseelt, so dass ich wieder nur an das Gute im Menschen glauben will. Grundsätzlich gab es aber in der Tat kaum aggressive Auseinandersetzungen zwischen Autofahrern und Demonstranten. Bis auf ein paar wenige Ausnahmen lassen die Autofahrer uns gewähren und zollen uns Respekt. Schön wäre es, wenn es auch im alltäglichen Straßenverkehr mehr Achtsamkeit geben würden, vor allem von den Autofahrern. Denn die Radfahrer bleiben auch in Zukunft das schwächere Glied im Straßenverkehr, auch wenn man das im Kern der Critical Mass kurz vergessen konnte. Ein schönes Gefühl, ja: gleichzeitig von Freiheit und Zusammenhalt.
Termine:
Am Freitag, den 28.08.2015 um 19 Uhr, trifft sich die Critical Mass Braunschweig erneut! Wie jeden letzten Freitag im Monat.
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