
Die Macht der Rhythmen
Der große Kreis: Ein modernes Opferritual
Alles vibriert. Der Boden, die Wände und der ganze Körper. Voll rasender Kraft brechen sich immer neue Rhythmen ihre Bahn, durchbohren Herzen und explodieren in Köpfen, zerfetzen jeden Gedanken ans Gestern und Morgen und hämmern das Bewusstsein mit Wucht ins Hier und Jetzt. Eine kleine, fast leere Bühne wird zum Schauplatz archaischer Magie – jedoch mit moderner Technik. Wie das geht, lässt sich kaum in Worten beschreiben. Doch am 30. und 31. Oktober habt ihr noch zwei Chancen, dieses absolut außergewöhnliche Theaterstück von Theater im Glashaus in der Kunstmühle selbst zu erleben!
Text: Manuela Kuhar | Fotos: Jens Bartels/JayBe Photography und Stefanie Krause
„Das Frühlingsopfer“, oder „Le Sacre de Printemps“, heißt die Musik von Igor Strawinsky, auf dem das Theaterstück lose basiert. Im Original-Ballett geht es um ein Ritual im heidnischen Russland: Damit nach dem langen Winter der Frühling wiederkehrt, wird eine Jungfrau auserwählt, die in einem Opferritual so lange tanzen muss, bis sie tot zusammenbricht. Bei der ersten Aufführung des Originals gab es 1913 einen handfesten Tumult: Das Publikum fand die experimentelle, expressionistische Musik völlig jenseits von Gut und Böse. Klingt ausgefallen? Ist es auch!
Das Theater im Glashaus, ein Projekt der Lebenshilfe Braunschweig, hat aus diesem Vorbild ein außergewöhnliches Theaterstück entworfen. Es geht um Kreisläufe in der Natur, um Entstehen und Vergehen, um unser Verhältnis zur Natur und zu Leben und Tod. Auf- oder abgeklärt wie wir heute sind, gehen wir ach so zivilisierten Menschen ganz selbstverständlich davon aus, dass die Jahreszeiten wiederkehren, dass die Natur schon irgendwie weiter funktionieren wird, auch ohne Opfer an Götter oder Naturkräfte. Doch was, wenn es vielleicht gar nicht so einfach ist? Wie beeinflussen wir mit unseren Handlungen die Abläufe in der Natur. Und müssen wir vielleicht doch etwas tun, etwas opfern, damit wir weiter existieren dürfen, damit die Natur uns weiterhin duldet? Wer weiß, wie lange es noch dauert, bis die Menschheit sich selbst zerstört…
Solche philosophischen Gedanken schießen mir zwischen den Szenen durch den Kopf. Die Darsteller machen selbst Musik, auf diversen Percussion-Instrumenten sowie auf „Elektrofiedeln“, dicken Metallsaiten, denen sie mit Holzschlägeln, Geigenbögen und Verstärkern vielfältige Klänge entlocken.
Eine zentrale Rolle im Stück spielt eine Rhythmusmaschine, die die Projektgruppe für das Theaterstück selbst entwickelt hat: Der „Große Kreis“. Um einen Eindruck davon zu bekommen, schaut euch am besten das Video an!
Die Rhythmusmaschine besteht aus vier ineinanderliegenden Kreisen aus Licht, die ein Beamer mitten auf die Bühne projiziert. Stellt euch eine Uhr vor, die ein Sekundenzeiger umläuft; bei jedem Sprung von Sekunde zu Sekunde ertönt ein Ticken. So ähnlich ist es auch bei der Rhythmusmaschine: Ein „Zeiger“ aus Licht läuft rundherum, während die Darsteller weiße Kugeln auf die Kreise legen, oder selbst im Kreis stehen oder darin tanzen. Je nachdem wo die Kugeln liegen oder wo sich die Schauspieler gerade befinden ertönt ein Klang, wenn der Zeiger an der jeweiligen Stelle vorbeikommt: Zum Beispiel ein Paukenschlag, Klicken, Scheppern oder auch ein Wort – je nachdem, was die Darsteller unmittelbar vorher aufgenommen haben.
So entstehen ständig neue Rhythmen, verändern sich und vergehen: Mal regelmäßig und ruhig, mal chaotisch und rasend. Die Rhythmen werden zum Herzschlag der Natur, zu Totenglocken oder zu Donnerschlägen des Schicksals und machen den Kreislauf von Entstehen und Vergehen hörbar.
Die visuellen Effekte sind ebenso faszinierend wie der Sound. Weiße Kästen auf der Bühne werden, dunkelrot beleuchtet, in meinen Augen zu blutverschmierten Altären. Grelle Lichtblitze zerreißen das Dämmerlicht, blenden und verwirren die Augen und hinterlassen geisterhafte Nachbilder in der Dunkelheit. In der unwirklichen Szenerie verwandelt sich ein Darsteller, schwarz-weiß gekleidet, in den Hohepriester der Rhythmen: Sein langsamer, bedächtiger Tanz wird durch den Stroboskopeffekt abgehackt, zerrissen, wird in meiner Fantasie zu einem dämonischen Ritual, zu einer Anrufung dunkler Mächte. Und schließlich herrscht Stille. Das Frühlingsopfer ist vollbracht.
Das kann ja nur heißen, dass der Frühling bald kommt!
Termine:
„Der große Kreis“ | 30.10. und 31.10.2014 | Kunstmühle, Hannoversche Strasse 69 | Karteninformation
[…] Unter diesem Link findet man einen Bericht über die Premiere auf Kult-Tour Braunschweig . […]