
Das Punctum zwischen den Porträts. Fotoausstellung im Tillyhaus Salzgitter
Zur Eröffnung der Ausstellung „Faces -mirror of the soul“ von Rolf Großjohann und Siegfried Krause am 17.10.2017 habe ich eine kleine Laudatio entworfen, die ich auch hier präsentieren möchte, um euch einen Besuch der Ausstellung ans Herz zu legen. Die Porträtfotografien hängen noch bis zum 12.11.2017 und auch ich bin auf einem Bild zu sehen. Öffnungszeiten: Do 14 – 18 Uhr, So 13 – 17 Uhr, Ort: kleine Galerie im Tilly-Haus, Marienplatz 12, 38259 Salzgitter (Salzgitter-Bad). Gastgeber: Spektrum – freies Kunststudio Salzgitter e.V.
Text: Stefanie Krause
Sehr geehrte Damen und Herren, sie sind ja alle fachkundig. Also was kann ich da noch groß sagen. Aber vielleicht sei mir doch folgende Betrachtung gestattet. Ich möchte zur Eröffnung der Fotoausstellung von Rolf Großjohann und Siegfried Krause einen Begriff aus meinem Fachgebiet der Kunstwissenschaft bemühen. Während ich diesen Text verfasste, hat mir das sogenannte Punctum des Philosophen Roland Barthes ermöglicht, dem mysteriösen Phänomen der Nähe zwischen den Bildern der beiden Künstler aufzuspüren. Denn die Ausstellung konfrontiert mich – und konfrontiert uns – mit einer ganz besonderen Herausforderung. Wir schauen hier nicht unbedingt von einem unabhängigen Einzelbild zum nächsten Ausstellungsstück, von Gesicht zu Gesicht, von Porträt zu Porträt. Nein, wir sind durch eine durchdachte Hängung, die von den befreundeten Künstlern selbst konzipiert wurde, mit einer Besonderheit beschenkt: Die Exponate begrüßen uns in Bildpaaren, die auf geheimnisvolle Art und Weise miteinander kommunizieren und in ein Näheverhältnis treten, welches mich persönlich höchst emotional gepackt hat.
Daher möchte ich den Begriff des Punctum von Roland Barthes ins Spiel bringen. Denn das Punctum eröffnet im Gegensatz zum analytischen und kulturell konnotierten Studium der Fotografie ein sinnliches Interpretationsfeld. Erst das Punctum macht eine Fotografie zu einem berührenden Ereignis, erzählt uns Roland Barthes im fotografietheoretischen Werk „Die helle Kammer“.
Das Punctum bildet einen unbewussten Stich, der von der Fotografie selbst ausgeht. Es bricht affektiv in die Welt des Betrachters ein. Was an der Stelle des Einstichs bleibt, ist eine Betroffenheit, eine Emotion, eine Sehnsucht. Bezüglich der Ausstellung von Rolf Großjohann und Siegfried Krause möchte ich das Punctum jedoch nicht innerhalb jeder einzelnen Fotografie suchen, sondern: ich möchte in diesem dialogischen Raum zwischen den Werken nachspüren, was mich bei fast jedem Bildpaar ad Hoc ergriffen hat.
Was geschieht zwischen den Bildern dieser Ausstellung? Was passiert, was hier so schmerzhaft schön trifft? Sind es die unschuldigen, naiven und doch so frech-herausfordernden Blicke, die zwischen den zahlreichen Kinderporträts ausgetauscht werden? Ist es das wissende Auge des älteren Herrn, welches sich in der temperamentvollen Handgeste der erzählenden Dame spiegelt? Ist es die langgezogene Kontemplation des versunkenen Musikers, die unmittelbar vor dem Konzert durch den Auslöser der Kamera zerschnitten wird und auf einem einzigen zeitlosen Bild festgehalten wird, oder ist es die schnelle Bewegung des Schlagzeugers, die in der Ewigkeit einer Fotografie angehalten wird und in der Versunkenheit des Bildpartners einen absoluten Gegensatz per se findet? Sieht die einfache, aber über allem thronende Bauersfrau ihr Fundament in dem ehrwürdigen, adligen Herrn? Oder trifft der scharfe Fingerzeig als kritische Geste auf den etwas verunsicherten Kapitän? Und -welches Seelenmerkmal spiegelt sich eigentlich in der schrägen Grimasse der Selfie Queen, vor allem in dieser krass-konträren Gegenüberstellung mit dem hübschen Lächeln der Tänzerin? Man weiß es nicht genau und doch entstehen tausend Geschichten zwischen den hier ausgestellten Fotografien.
Ja, ganz dem Ausstellungstitel entsprechend, scheint sich in den einzelnen Bildern etwas wie die Seele der Abgebildeten zu etablieren. Aber gerade in der Gegenüberstellung dieser ganz unterschiedlichen aber doch immer in einer gewissen Ähnlichkeit verbundenden Porträts spiegelt sich meiner Meinung nach noch ganz viel mehr.
Wie auf zwei Waagschalen zittern die fotografierten Menschen in ihrem dichotomischen Verhältnis, in einem fragilen Ringen. Es entsteht eine Art ästhetischer Kampf im Zwischenraum dieser Seelenbilder– positiv konnotiert, wie ich finde. Ein Buhlen, welches höchst inspirierend ist, weil es manchmal voll gegensätzlicher Energie steckt. Wir – die Betrachter – sind Wandler zwischen den Seelen, zwischen dem Gemurmel der Personen, welches keine akustischen Parameter besitzt sondern einem höchst diaphanen Kommunikationsgesetz folgt. Der Bindungspunkt zwischen den fotografierten Personen wirkt hier wie ein dynamischer Tanz, dort wie ein vertrautes Gespräch oder ein geheimnisvoller Blick zwischen Personen, die sich außerhalb der fotografischen Realität vielleicht noch nie begegnet sind und sich vielleicht auch nie begegnen werden. Was mich so fasziniert ist die von dieser Realität völlig unabhängigen Möglichkeit zur Erzählung. Einer Erzählung, die im Moment der Betrachtung zu einer Wirklichkeit der Kunst wird. Zu meinem Punctum dieser Ausstellung.
Ich möchte es das Punctum der Nähe im Zwischenraum des fotografischen Porträts nennen.
Wir als Betrachter werden unmittelbar davon getroffen, gehen selber eine narrative Nähe zu dem Bildpaar ein und dürfen temporär in diesen Zwischenraum eintreten. In diese Welt, die nur durch die einmalige Verknüpfung der Bilder von Rolf Großjohann und Siegfried Krause entstehen kann und die sich mit der Trennung der Paare auch wieder auflösen wird.
Also, wir wohnen hier einem ganz besonderen weil flüchtigen Moment bei und deswegen möchte ich sie nun alle entlassen, damit sie ihren fachkundigen Blick auf die Ausstellung richten können. Erlauben sie mir zu guter letzt nur den schüchternen Wunsch, dass ich diesem Blick ein wenig Inspiration liefern konnte. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!