
Auf den Spuren des Kunstlebens | Teil 1
Also das war wirklich kein schläfriger Kunstspaziergang, sondern wahrlich eine aufregende Kunst-Tour! Glücklicherweise habe ich am 12. Oktober 2013 einen motorisierten Untersatz, denn anders hätte mein Besuch auf dem Kunstfest „Kunst…hier und jetzt“ schnell anstrengend werden können. Über 90 Künstlern laden die Öffentlichkeit an diesem Wochenende ein in ihre Ateliers in ganz Braunschweig und der Region. Das bedeutet, im Hier und Jetzt kann Kunst direkt an ihrem Entstehungsort entdeckt werden – am Ort des kreativen Schaffens und eben nicht unbedingt eingerahmt, eingezäunt und ausgestellt. Im ersten Teil meines Berichts besuche ich Daniel Folwatschni, Wolf Menzel und Martin Seidel…
Text und Fotos: Stefanie Krause
Auf den Spuren des Kunstlebens
Ich genieße also das Privileg, mit dem Auto abgeholt zu werden und das ist auch gut so. Diese Kult-Tour soll einmal quer durch Braunschweig führen und selbst damit ist nur ein winziger Bruchteil des Angebots von Kunst…hier und jetzt anvisiert. Bei dem Nieselregen wäre das mit dem Fahrrad wahrlich eine Tort(o)ur geworden, aber so kann ich mich entspannt von ein paar Pferdestärken mehr durch die Kunstlandschaft kutschieren lassen. Drahtesel reichen dem Künstler Daniel Folwatschni zum Anlass des Kunstfests ebenso nicht, obwohl er auch diese gern zu Kunstobjekten verwandelt, daher steht auf dem Hof vor seinem Atelier in der alten Wassermühle am Karl-Hintze-Weg 3 ein stattliches Metallpferd. Jedoch hat er das eigenhändig hierher kutschiert, denn die lebensgroße Skulptur ist in Veltheim am Elm in Zusammenarbeit mit dem Goldschmied Hans Kreis entstanden. Für Kunst hier und jetzt musste es mühsam nach Braunschweig gerollt werden. Mit der Räder-Plattform unter den eisernen Hufen erinnert das „Stahlross“ ein bisschen an ein
gigantisches Spielzeugpferd. Doch die glänzenden Metallplatten, die das zum Teil mit Stroh gestopfte Pferdeskelett aus rauen Metallstreben umpanzern, verleihen dem Riesenpferdchen auf Rollen gleichzeitig den Anschein eines eindrucksvollen Schlachtrosses. Irgendwie steckt Leben in dieser Stahlkonstruktion und die Assoziationen überschlagen sich in meinem Kopf. Wie gut, dass ich bei Kunst…hier und jetzt gleich vor Ort die Gelegenheit habe, mich mit dem Künstler selbst über Referenzen und Interpretationen zu unterhalten. Wir sinnieren darüber, in wie vielen Bereichen das Pferd als Nutztier dem Menschen das Leben erleichtert oder verschönert hat. Ob im Krieg, vor der Kutsche, auf dem Acker, als Therapiepartner oder als Vorbild für Spielzeugfiguren – das Pferd dient dem Menschen seit langem treu und ergeben und ist Teil der menschlichen Kultur. Deswegen ist sein „Stahlross“ für Daniel Folwatschni auch so etwas wie ein „Denkmal für die Tiere“ und in diesem Sinne gehört auch der Transport der Skulptur für ihn in das künstlerische Konzept. Bewusst
wurde das Pferd nicht mit einem Lastkraftwagen nach Braunschweig gebracht. Zu Fuß ging es über Ackerwege und Straßen, wobei die konventionelle Arbeitsaufteilung zwischen Tier und Mensch konterkariert wurde. Die Rollen waren vertauscht, denn der Mensch musste seine Kräfte nutzen, um das Pferd mühsam von der Stelle zu bewegen. „Wir mussten Warnwesten tragen“, erzählt Daniel, denn die schwere Skulptur konnte nur im Schneckentempo über Straßen geführt werden. In der Entschleunigung wird noch deutlicher, wie viel Energie aufgebracht werden muss und wie wertvoll diese ist. Das scheint auch allgemein ein Thema zu sein, welches im Zentrum von Daniels künstlerischen Reflektionen steht. Im Inneren seines Ateliers, dass vielmehr einer Werkstatt gleicht und wo ich allerhand Schraubstöcke, Bohrmaschinen und auch eine Axt vorfinde, sind noch einige andere Werkstücke von ihm zu sehen. An ihnen heftet der Charme des alten Materials, das der Künstler oft für seine Arbeiten verwendet und nicht selten auf dem Schrottplatz vorfindet. Doch dieser erste Anschein trügt, denn seine Werke sind Konstruktionen aus dem Hier und Jetzt und thematisieren hochmoderne Themen wie den Umgang mit Resourcen, Verwendung und Verschwendung von Energie, Be- und Entschleunigung von Bewegung und die Verschmelzung von lebendigem Körper und künstlicher Maschine. So kommt es im Ausstellungskontext auch vor, dass der Künstler selber in seine Maschinen steigt und in dem Kunstwerk nahezu verschwindet. Nur so bekämen einige seiner Kunstwerke erst ihre komplette Form, erklärt er, und macht mich damit neugierig. Gerne möchte ich Daniel und seine Kunst in gemeinsamer Aktion sehen! Kunst und Körper als energetische Einheit – eine besondere Verknüpfung von Kunst und Leben.
Kunst und Leben kommen in der Hermannstraße 2 über andere Wege zusammen. Wenn man den schönen Altbau betritt, befindet man sich nicht nur in einem Raum für Kunst, sondern auch in einem Lebensraum. In konventionellen Wohnungen sind Wolf Menzels und Martin Seidels Ateliers verortet und ihr Wohn-, Lebens- und Alltagsraums findet sich gleich nebenan. Oder soll ich vielmehr sagen, mitten drin? Ich fühle mich auf jeden Fall sogleich mittendrin, denn Wof Menzel kommt mir bei der Ankunft zufällig entgegen und wir verweilen kurz zu einem Plausch. Nachbarschaftsgeplauder oder Kunstgespräch? Die Kunst steht hier zumindest bereits im Hausflur wie in anderen Hausgemeinschaften die Babykarre. Es handelt sich bei dem raumfüllenden Riesenbild im Treppenhaus um das Kunstpuzzle, welches von Wolf Menzel und Martin Seidel für eine Kunstaktion im öffentlichen Raum konzipiert und hergestellt wurde. Arbeiten expressionistischer Künstler aus dem kollektiven Kunstgedächtnis wurden von den beiden malerisch auf übergroße Puzzleteile gebannt, die dann direkt auf dem Platz vor dem Schloss zusammengefügt werden sollten. Damit waren die vorbeieilenden Bürger auf Shoppingtour zu einem
interaktiven Kunstpuzzeln und einer spontanen Auseinandersetzung mit Kunstgeschichte aufgefordert. Das Kunstpuzzle wird als eine der ersten Kunstaktionen auf dem Schossplatz ebenfalls in die Geschichte eingehen und als eine gelungene Verschmelzung von Kunst und Kunstgeschichte im Hier und Jetzt des Stadtlebens! Aber jetzt muss Wolf kurz den Hund ausführen, der ebenfalls zu Besuch im Atelier ist. „Wir sehen uns gleich!“ Genau, ich gehe schon einmal vor durch eine ganz normale Haustür, die von Wolf etwas angehübscht wurde, und betrete das Menzelreich. Durch einen weichen, durchscheinenden, aber gleichzeitig verhüllenden Vorhang muss ich mich schmeicheln, der den Akt des Ankommens in Wolfs Raum des kreativen Schaffens effektiv in Szene setzt. Ich möchte sofort die oft so graue Welt und den oft so tristen Alltag (und den Nieselregen!) dort draußen vollends hinter mir lassen, um jetzt ganz in Wolfs bunte Welt einzutauchen. Großformatige, farbintensive Gemälde schmücken die hohen Altbauwände bis zur Decke und geben dem Flur eine erhabene Wucht. Ein Raum weiter befindet sich das eigentliche Atelier, wo Staffeleien, fleckige Farbtöpfe und verkrustete Pinsel vom ‚Kunst-Machen‘ erzählen. Entgegen der Tatsache, dass dieser Prozess bestimmt oft recht einsam ist, wuselt das Atelier heute vor Leben. Ein paar Kinder spielen im Flur mit dem Hund, der inzwischen mit dem Wolf heimgekehrt ist. Wie auf jeder guten Party stehen die meisten Gäste in der wunderschönen Wohn-Kunst-Küche, die ebenfalls mit lauter Bildern behängt ist. Dennoch ist das hier kein klassischer Ausstellungsraum für seine Bilder, in Wolf Menzels Atelier wird zum Anlass des Kunstfest Kunst…hier und jetzt vermittelt, wie und vor allem wo seine Kunst entsteht. Und das ist gelungen, denn ich habe einen sehr lebendigen Einblick bekommen! Danke dafür!
Am liebsten möchte ich die Zeit vergessen und ewig durch die Kunstateliers Braunschweigs flanieren – doch leider muss ich schon weiter, sonst schaffe ich den Kult-Tour-Plan für heute nicht mehr. Zum Glück gibt Wolf den wichtigen Hinweis, nicht gleich zur Haustür herauszustolpern, sondern vorher scharf nach links abzubiegen. Hier existiert eine Parallelwelt der Extraklasse! Sobald ich die Türschwelle überschritten habe, befinde ich mich in diffusem Halbdunkel. Durch Massen von Leinwänden findet das Licht kaum mehr eine Lücke. Auf dem Boden und in einer zweiten Ebene dieses Wohnungsflurs sind sie gelagert und noch mehr stehen an die Wände gelehnt. Ein Schild mit einem Pfeil muss die Richtung durch den schmalen Weg weisen und auffordern, das Atelier von Martin Seidel zu betreten. Hier flutet mir das Licht nicht nur aus den großen Fenstern entgegen, sondern auch von Martins Gemälden. Mit hellen Pastelltönen gemalte und mit filigranen Zeichenstrichen konturierte Landschaftsutopien legen sich dem Blick frei und entwickeln eine federleichte und doch präsente Ausstrahlung. Martin Seidel gelingt es selbst mit schweren Ölfarben flüchtig und zerbrechlich anmutende Form- und Farbfantasien zu
entwickeln, die dann doch wie undurchdringliche Privatwelten erscheinen. Ähnlich wirkt das Atelier auch auf mich. Ein bisschen befällt mich das Gefühl, ich habe hier nicht ganz erlaubt einen sehr intimen Raum betreten. Irgendwie stimmt das auch ein bisschen, denn Martin Seidel wohnt bereits seit den 80er Jahren hier und macht Kunst. Diese Wohnung beherbergt daher nicht nur sein Kunstatelier, sondern ist gleichzeitig sein Wohnraum. Aber obwohl ich hier fremd bin, werde ich nach der ersten Befangenheit freundlich empfangen und Martin erzählt davon, wie und wann er diese Wohnung damals gefunden hat und welch ein Glücksgriff das war. Dann möchte er mir noch ein ganz frisches Bild zeigen und greift zielstrebig in eine mit noch mehr Leinwänden bestellte Zimmerecke. Kurz verschwindet seine Figur fast komplett, aber es dauert nur ein paar Sekunden und er kommt mit einem traumhaften Gemälde und stolzem Blick wieder hervor. Dieser Moment hat für mich etwas ganz Besonderes, denn es ist mir so, als wird mir gerade ein ganz exklusiver Blick in Seidels Kunstwelt von Martin höchstpersönlich gewährt. Ein große Ehre und ein sehr schöner Atelierbesuch!
Im zweiten Teil zum Kunstfest Kunst…hier und jetzt berichte ich von Hanno Stück und Angelika Stück und der Blackhole Factory.