
Fröhlich-melancholische Schachtelkunst
Ich hätte nicht geahnt, dass an diesem windigen Freitag, den 14.02.1014, in der Braunschweiger Galerie einRaum 5-7 ein Geheimnis auf nahezu schicksalhafte Weise gelüftet werden sollte. Doch hier begegne ich Mano Kellner, die Heute mit zahlreich erschienenen Kulturgästen die Vernissage für ihre Ausstellung „Von Safranfressern, Abholern und Baronessen“ feiert. Und ich begegne einer kleinen Hirschfigur, die mir aus der eigenen Kindheit gut bekannt ist. Da steht sie in einer der ausgestellten „Kunstschachteln“! Ich bin erstaunt und auf amüsante Weise beglückt, denn Künstlerin Mano Kellner ist flohmarkterfahrene Expertin und kann mir die Geschichte der kleinen weißen Hirsche erzählen …
Text: Stefanie Krause | Fotos: Mano Kellner
Manchmal – an diesen melancholischen Tagen – ziehe ich eine kleine, hölzerne Zigarrenschachtel aus der Nostalgieecke meines Regals. In ihrem Inneren beschützt sie allerlei Dinge vor der Vergänglichkeit, die ich gerne unter einem meiner liebsten Begriffe zusammenfasse – „Krimskrams“: bunte Plastikfiguren; gläserne Murmeln – manche mit neu-schimmerndem Metallicglanz, andere abgenutzt vom Kinderspiel mehrerer Generationen; hübsche Knöpfchen, in denen noch der Zwirn eines unbekannten Kleidungsstücks hängt; schwarzweiße Fotos, auf denen mir unbekannte Familienmitglieder entgegen lächeln; verbogene Büroklammern, die vielleicht mal geheime Akten zusammenhielten; Zeichnungen, die bei stundenlangen Telefonaten entstanden sind…eine Zigarrenbandarole, ein siberner Uniformknopf und – ein kleiner Hirsch in Elfenbeinweiß. Woher stammt dieses Tierchen und welchen Zweck hat es mal erfüllt, habe ich mich schon immer gefragt. Zum Spielen war es ungeeignet – kippte es doch mit seinem schmalen Podest unter den feinen Hufen immer so leicht um – doch als Schmuckstück zu billig, denn nicht aus Elfenbein, sondern aus Plastik war dieser stolze Hirsch geschnitzt.
Ich hätte nicht geahnt, dass dieses Geheimnis an einem windigen Freitag in der Braunschweiger Galerie einRaum 5-7 auf nahezu schicksalhafte Weise gelüftet werden sollte. Doch hier begegne ich Mano Kellner, die heute mit zahlreich erschienenen Kulturgästen die Vernissage für ihre Ausstellung „Von Safranfressern, Abholern und Baronessen“ feiert. Und ich begegne in einer ihrer hier ausgestellten Kunstschachteln einem kleinen Hirsch, der genau so aussieht wie meiner. Ich bin erstaunt und auf wohlig-warme Weise beglückt, denn Mano Kellner ist flohmarkterfahrene Krimskrams-Expertin und kann mir die Geschichte der kleinen weißen Hirsche erzählen. Es handelt sich hierbei um nichts anderes als eine Werbestrategie aus einer längst vergangenen Zeit! In den 50er Jahren, als die Nachkriegsgeneration in einem vorher ungekannten Überfluss an Nahrungsmitteln schwelgte, sah sich die Margarineindustrie einer schier unbezwingbaren Konkurrenz gegenübergestellt: Butter! Als Mehrwert und Kaufargument für Sammler legte man den Margarineprodukten kleine Plastikfiguren dazu.
Wie gut, dass es Menschen gibt, die diese auf den ersten Blick banal anmutenden Kleinigkeiten aufheben! Denn solche und andere Objekte dienen Mano Kellner als Arbeitsmaterial für ihre „Kunstschachteln“, die jede für sich einen kleinen Mikrokosmos enthält. Bis zum 04. April werden diese teils skurrilen, märchenhaften, vielschichtigen und ganz wunderbaren Kunstschachteln in der einRaum 5-7 die Wände schmücken. Ein ganzes Jahr hat Mano Kellner aus Erkerode an den Exponaten gearbeitet und die Entstehung dieser Werkreihe in ihrem gut besuchten Blog dokumentiert, indem sie jeweils eine der 52 Kisten pro Woche hier veröffentlicht hat. In den Schachteln finden sich Fundstücke aus unterschiedlichen Jahrzehnten, Generationen und Leben. Diese materialisierten Alltäglichkeiten, Besonderheiten, Kuriositäten und Schätze fügt Mano zusammen zu visualisierten Geschichten, die vom Rahmen der Zigarrenschachteln umschlossen werden, aber doch so offen für Interpretationen sind, dass jeder seinen eigenen assoziativen Erinnerungen in Anbetracht der kleinen Kunstwerke nachhängen kann.
An anregenden Ideen und an Schachteln mangelt es Mano auf jeden Fall nicht, „ein Freund raucht regelmäßig Zigarren“, verrät sie mir am Abend der Vernissage bei einem wohlschmeckenden Glas Sekt, das wir gegen eine freiwillige Spende aus der Kult-Tour-Kasse von den freundlichen einRaum-Galeristen eingeschenkt bekommen. Obwohl die Galerie sehr gut besucht ist und eine quierlig-gute Laune um uns saust, beginnt der Dialog zwischen Mano und mir sogleich ganz ruhig, sympathisch und informativ. Am liebsten seien ihr die ganz alten, fein geschreinerten Kisten mit aufwändigen Verzierungen und schmucken Tabaksiegeln, die zum Brechen fast zu schade waren, erzählt sie mir. Ich verspüre den drängenden Wunsch, eine dieser reich befüllten und semantisch höchst-aufgeladenen Schatzkisten einmal zu verschließen, um das Gefühl beim (Wieder-)Öffnen, diesen Moment der Offenbarung der versteckten Mikrowelt, selbst zu erleben. Natürlich bin ich dreist genug, um zu fragen und tatsächlich darf ich es bei ein paar wenigen Zauberkistchen ausprobieren. Die Deckel der Schachteln sind außen fast so schön gestaltet wie deren Innenräume. Als ich sie übervorsichtig öffne, befällt mich der Eindruck, sogleich einen verstohlenen Blick in eine ganz geheimnisvolle Welt werfen zu dürfen. Dieser Akt hat etwas sehr Intimes. Es sind Manos künstlerische Energien und sensiblen Welten, die ich mir hier erspüren und anschauen darf.
Manchmal sei es das Design der Schachtel, welches sie „auf Anhieb inspiriert“, antwortet Mano auf meine Frage, wie sie beim Prozess der Gestaltung vorgehe. So war es zum Beispiel bei einer Schachtel, die dem Heidedichter Herman Löns gewidmet ist. Da habe die weitere Gestaltung des Kistenkosmos auf der Hand gelegen, sagt Mano. Landschaftsbilder und natürliche Materialien von Heidegewächsen dienten ihr als Puzzlestücke für eins der verwunschenen Unikate, in die sie viel Gefühl investiert und mit denen sie eine große Liebe zum Detail beweist. „Ich liebe die Heide“, schwärmt Mano Keller mit verträumten Augen, als wir vor dieser Kunstschachtel ins tiefere Gespräch finden. Und dann fangen ihre Augen an zu Leuchten und die Geschichten sprudeln nur so hervor. In einer Schachtel zeigt sie mir ein vergilbtes Telegramm und ich werde neugierig. In Zeiten von SMS, Facebook und Whatsapp klingt Manos Geschichte wie von einem anderen Planeten: „Früher hat man sogar Telegramme verschickt, als man den Zug verpasst hat.“ Sie wüsste gar nicht mehr genau, warum sie diese telegraphische Kurz-Mitteilung von einem Freund, der eine Prüfung mit 3+ bestanden hatte, aufgehoben hat. Aber welch „glücklicher Zufall“ sei es doch, sinniert sie, „dass ich sie überhaupt aufgehoben habe“. Wie kann ein solch kleines Stück Papier solch eine Wertigkeit erhalten und nun sogar Teil eines Kunstwerks werden? Richtig: Indem man es aufhebt.
Und was heißt hier klein? Ist es nicht so, dass man nicht nur den Gegenstand sondern auch ein großes Stück von sich selbst aufhebt? Ein Stück Kindheit, ein Stück Familie, ein Stück Leidenschaft, ein Stück Liebe, ein Stück Freundschaft? Für mich ist die aktuelle Ausstellung in der einRaum 5-7 auch eine Ode gegen das Wegwerfen und eine Liebeserklärung an das Erinnern an die Vergangenheit im Hier und Jetzt. Sie erinnert mich an die persönlichen Erinnerungskisten, die manche Menschen etwa bei einer vergangenen Liebe mit Fotos, Geschenken, Briefen und vertrockneten roten Rosen besetzen, um das Vergangene lebendig zu halten. Wohlig-warm kann dabei das Gefühl von Nostalgie sein, oder auch manchmal etwas ganz Trauriges bedeuten, denn manche dieser ‚Lebenskisten‘ enthalten nur ganz wenige oder gar keine Gegenstände. Das beweist vielleicht, wie leer der Alltag mit einem Menschen gewesen ist.
Leer sind Manos Kisten jedoch bestimmt nicht! Sie stecken voller Leben! Sie verknüpfen die Generationen und sie verbinden die vielen Gäste, die heute gekommen sind. Mano Kellners Kunstschachteln regen an, sich eigene Geschichte zu erdenken und sich an erfüllte und geplatzte Träume versöhnlich zu erinnern. Dieses Potential zur großen Geschichte beweist an diesem Abend Tilman Thiemig auf eindrucksvolle Weise, denn er hat eine märchenhafte-tiefsinnige Ballade anlässlich der Ausstellungseröffnung geschrieben und diese verliest er heute. Tilman Thiemig zeigt es deutlich auf: Der Blick in die Kunstschachteln von Mano Kellner führt bestimmt nicht nur zu einer Entschleunigung der Gegenwart, sondern vor allem auch zu einer Loslösung einer kreativen und sehr lebendigen Dynamik. Die vielen Geschichten der Betrachter verbinden sich mit Manos Welt und das sprudelnde Leben geht als ewig-sprühende Geschichte weiter. So sprüht auch dieser Abend in der einRaum 5-7 vor Inspiration und Lebensfreude: Bis spät abends wird angeregt Konversation betrieben und am Ende wird sogar in der Galerie getanzt. Ein absolut gelungener Start nach der Winterpause! Die einRaum 5-7 im Handelsweg bringt Leben in die Buden und Schachteln!