
Fragen über Fragen. RULE: Ein Theaterstück (?!) über Freiheit und Fremdheit
Ein Raum mit sechs bunten Plastikinseln. Ein paar Mikrofone, die von der Decke hängen. Und ein Haufen Leute, die verwirrt schauen: Wo sind wir denn hier gelandet? Eine Art interaktives Theaterstück soll es werden, im Rahmen von „Fast Forward“, dem Europäischen Festival für junge Regie. Emke Idema, die niederländische Regisseurin, versteckt sich erst einmal hinter einer großen Tafel, während eine Stimme aus dem Off allerlei Fragen stellt. Was ist den Anwesenden wichtiger: Idealismus oder Pragmatismus? Offenheit für Neues oder Vertrauen auf Bekanntes? Für das eigene Wohlergehen zu leben oder das einer Gemeinschaft? Bei jeder Frage stellen sich die Teilnehmer je nach Antwort auf eine der farbigen Inseln. So entsteht nach und nach eine Art „Verfassung“, die die Regisseurin in großen Lettern an die Tafel pinnt.
Text: Manuela Kuhar | Fotos: Thomas Lenden
Das Ergebnis: Wir, die Teilnehmer, die Bürger von RULE™, sind also idealistisch, flexibel, offen, behandeln Leute immer verschieden, zweifeln uns selber ständig an und ändern gerne mal sinnlose Regeln. Ah ja! Jetzt sind wir bereit für die richtig unbequemen Fragen, die uns die Regisseurin des Stücks selbst stellt: Würden wir einer Frau Asyl gewähren, die offensichtlich in Not ist, aber über ihre Herkunft lügt? Würden wir einen fremden Mann in die Wohnung lassen, der bittet, bei uns auf die Toilette gehen zu dürfen? Bei dieser Frage springe ich spontan auf die „Nein“-Insel und frage mich sofort leicht verwirrt: Wieso eigentlich nicht? Ich lasse doch auch Handwerker in die Wohnung und sogar mal einen Versicherungsvertreter (!). Aber ich bleibe trotz der nachträglichen Zweifel erstmal stehen, denn ich könnte schließlich disqualifiziert werden. Die Spielregeln sind streng: Wer keinen Platz mehr auf einer Insel bekommt, sich selber widerspricht oder wer sich einer Minderheitenmeinung angeschlossen hat, fliegt raus! Und nun sollen die Disqualifizierten auch noch den Raum verlassen?! Als nur noch drei „Spieler“ übrig sind, ist endlich das Maß voll: Eine Teilnehmerin reißt ein Mikro an sich und beantragt die Änderung dieser sinnlosen Regel. Alle dürfen anschließend bleiben und auch wieder mitspielen.
Die nächsten Fragen werden nicht einfacher: Würden wir ausländische Kinder in ihr Heimatland zurückschicken, wenn ihr Vater Selbstmord begangen hat? Was würden wir tun, wenn Freunde bei uns in der Wohnung einziehen und dann unsere Privatsphäre verletzen? Schwierige Entscheidungen – und dann muss man sie auch noch begründen: Jede der zwei Gruppen hat 45 Sekunden Zeit, ihre Entscheidung am Mikrofon zu verteidigen. Und in der Tat machen Leute mit, erklären ihren Standpunkt auf englisch, deutsch und russisch. Da liegen Welten zwischen den Weltsichten.
Vordergründig ging es bei den vielen Fragen um Migration, Fremdheit und Dazugehören. Doch nach der Vorstellung diskutiere ich mit ein paar Schauspielstudenten noch lange über ganz andere Aspekte. Welche Regeln in unserer Gesellschaft sind sinnvoll oder nicht, und welche Möglichkeiten haben wir, sie zu beeinflussen? Wie können wir die Freiheit in unserer Gesellschaft nutzen, um frei zu bleiben? Die meisten Anwesenden nahmen die „Disqualifikation“ von Teilnehmern schweigend hin; erst als nur noch drei Leute im Spiel waren, setzten diese die Änderung der Regeln durch. Wann ist die Grenze erreicht, wann lassen wir uns Schikanen nicht mehr gefallen? Von welchen Konventionen und Erwartungen lassen wir uns einschränken und bestimmen, obwohl es eigentlich nicht nötig oder sinnvoll wäre? Wie sehr verbiegen wir uns bei der Arbeit oder im Privatleben, gehen vielleicht sogar gegen unsere ethischen Überzeugungen – aus Angst davor, den Arbeitsplatz oder Freunde zu verlieren, nicht mehr dazuzugehören. Nur wer sich anpasst, gehört dazu?!
Schwierige Fragen, und Emke Idemas Stück gibt jede Menge Stoff zum Nachdenken und Diskutieren. Und hoffentlich auch zum Handeln!