
Ihr wisst genau, wovon ich rede!
Samstag, 01.02.2014: „Ross lost it“ – Tanztheater im LOT. Stampfende Geräusche wie aus einer Fabrik, Donner, Flüstern, Klirren von Glas. Die Tänzer, ein Mann und drei junge Mädchen, verknoten sich dazu auf torkelnde, puppenhafte Weise. Mit der seltsamen Musik und scharf konturierten Schatten wirkt das alles irgendwie unheimlich, wie verzerrte, unnatürliche Karikaturen von Menschen. Nach 20 Minuten plötzlich Ende…
Text: Manuela Kuhar | Foto: Stefanie Krause
Ausverkauft, heißt es kurz nach mir an der Kasse, und in der Tat ist das LOT-Theater voll bis auf den letzten Platz – dementsprechend gibt es im Saal einige Sitzverteilungsprobleme. Bis diese mit ein paar Umsetz- und Kletteraktionen gelöst sind, schaue ich mich im Publikum um. Hinter mir sitzen ein paar Tänzerinnen, die mir von Auftritten im Staatstheater bekannt vorkommen. Spontan frage ich mich, ob die sich wirklich freiwillig in ihrer Freizeit andere Tanzstücke ansehen, oder ob das hier als berufliche Fortbildung gilt? Doch bevor ich sie fragen kann, geht auch schon das Licht aus.
Stampfende Geräusche wie aus einer Fabrik, Donner, Flüstern, Klirren von Glas. Die Tänzer, ein Mann und drei junge Mädchen, verknoten sich dazu auf torkelnde, puppenhafte Weise. Mit der seltsamen Musik und scharf konturierten Schatten wirkt das alles irgendwie unheimlich, wie verzerrte, unnatürliche Karikaturen von Menschen.
Nach 20 Minuten plötzlich Ende, Applaus. Ich muss stattdessen lachen, denn woher in drei Teufels Namen wusste das Publikum jetzt, dass Klatschen angesagt war? Oder war das abgesprochen?
Egal! Nun steht da ein Mann auf der Bühne und verbeugt sich immer wieder. „Ach so, das gehört zum Stück…“ flüstert jemand neben mir – schön, dass ich nicht die Einzige mit Verständnisproblemen bin. Als niemand mehr klatscht, wirkt der Tänzer verloren, suchend, einsam. Doch was sucht er? Laut der Beschreibung des Stückes im Theaterprogramm geht es um die „Suche nach wichtigen, essenziellen Werten…Wir haben unsere Freiheit, aber welchen Preis zahlen wir dafür? Felix Landerer erforscht … das Gefühl der Grenzenlosigkeit. Das Gefühl, alles machen zu können, aber auch alles verpassen zu können.“ Und tatsächlich schaffen es die Künstler, solche Assoziationen „rüberzubringen“ und noch viele mehr. „Aber was soll das alles?“ brabbelt mein Gehirn dazwischen, doch ich versuche das innere Gefasel abzuschalten und konzentriere mich auf das Zusammenspiel von Bewegung, Licht und Klang.
Plötzlich springt einer der Tänzer ohne Anlauf an die etwa zwei Meter hohe Rückwand der Kulisse und zieht sich an einem Arm hoch, so dass er mit den Füßen nach oben über die Wand klettert. Sind wir in einem Actionfilm gelandet? Wie Spinnen, Schlangen oder außerirdische Wesen gleiten die Künstler an der Wand hinauf und hinunter – „klettern“ kann man das gar nicht nennen! Offenbar haben sie eine Möglichkeit gefunden, die Schwerkraft abzuschalten…
Da dreht einer der Künstler – der offenbar Ross heißt – tänzerisch völlig durch, und zieht die anderen Tänzer in seine Raserei hinein; dann verkündet er mit ernsthafter Miene sinnfreie Wortspiele, die dem Publikum ein verwirrtes Kichern entlocken. „This is what life is all about!“ (Das hier ist es, worum es im Leben geht!) predigt er, während eine junge Tänzerin stocksteif vorbeitorkelt. Und als Ross mit voller Überzeugung deklamiert „You know exactly what I’m talking about!“ (Ihr wisst genau, von was ich rede!), bricht im Publikum ein Lachsturm los. Um was bitte geht es?! Jedenfalls ist jetzt klar, warum das Stück „Ross lost it“ (Ross ist durchgedreht) heißt!
Vielleicht ist es nicht so wichtig, um was es nun genau ging. Die Bewegungen, Lichteffekte und Klänge wecken individuelle Assoziationen und Gefühle, die kaum in Worte zu fassen sind. Hier sind ein paar von meinen Assoziationen: Jeder hat die Freiheit und die Verantwortung, seinem Leben einen Sinn zu geben – was zu allerlei Sucherei und Verwirrung führt…
Wie auch immer: Tanztheater muss man sehen, hören, fühlen, eine intellektuelle Herangehensweise bringt hier nichts. Es gibt wohl keine zwei Leute, die bei solchen Stücken das Gleiche erleben.
Ihr wisst doch genau, wovon ich rede! Oder?!
Manuela Kuhar ist 2013 nach Braunschweig gezogen und hat sich Hals über Kopf in diese Stadt verliebt! Sie arbeitet nebenberuflich als freie Journalistin und stürzt sich gerne auf Themen rund um Kunst und Kultur (bisher schreibt sie auch oft über ganz Anderes – siehe hier: www.science-texte.de).