
Baustelle Musikkultur. Auf Konzertreise durch Braunschweig, Salzgitter und Halle

Zurzeit hat mich die Konzertreisewut schlimmer erwischt als sonst. Zwar hat Kult-Tour Der Stadtblog schon über fünf Jahre auf dem Buckel und ich habe hier viele schöne Erlebnisse vor allem in der alternativen Konzertkultur gesammelt, aber es ist nicht immer ganz leicht, in der Region Braunschweig das musikalische Abenteuer zu finden. Gut zu wissen, dass mit dem neuen Kulturzentrum “Westand” in unserer Stadt bald etwas Großes passieren wird. Auch gut zu wissen, dass sich auch eine weite Konzertreise für ein kleines Hardcorekonzert lohnt und diese Szene sehr gut vernetzt ist. Also: wo war ich? Was wird kommen? Und warum muss ich erst nach Halle zum Konzert von Reach The Surface reisen, um das Metalherz ganz laut schlagen zu hören?
Text und Fotos: Stefanie Krause


Mein Herz wird mir allerdings schon zuvor in Salzgitter gebrochen. Mein Nacken übrigens auch. Vom ultraprogressiven Metalcore von The Oklahoma Kid, einer Band aus Rostock, die ich im Januar im Forellenhof Salzgitter erstmals live gesehen habe und die dann Anlass meiner Reise nach Halle werden soll. Zunächst bin ich aber dankbar, dass ich sie in Braunschweigs unmittelbarer Umgebung sehen konnte, sonst wäre das alles nicht passiert. Das Konzert von Walking Dead On Broadway, The Oklahoma Kid, Until The Moment Comes und Wither in Salzgitter wird in der Braunschweiger Szene als „Ach, das Metalcore-Ding“ bezeichnet. Leidenschaft: Fehlanzeige! Was’n los mit euch? Nun, das Salzgitteraner Publikum ist an diesem Abend auch etwas introvertiert, sag’ ich mal. Aber immerhin sind die da und gar nicht so wenige. Deswegen: ich feiere es ab, dass in der Provinz (ich weiß, wovon ich rede, ich komme selbst aus Salzgitter) nach wie vor die Fahnen für alternative und harte Musik hochgehalten werden. Das hat schließlich Tradition! Ich durfte hier unter anderem Crowbar und Pro-Pain sehen, andere schwärmen heute noch den ganz großen Hardcorehelden der 90er, die sie hier live erleben konnten. Das müsst ihr euch mal vorstellen: in Salzgitter! Der Stadt mit den wenigsten Einwohnern relativ zu den Erwartungen gesehen, die die zahlreichen Autobahnausfahrten schüren. Sind wir mal ehrlich, in Salzgitter liegt der Hund begraben, und das noch nicht mal in einem Stück, sondern post mortem zerteilt und auf über 30 Dörfer verteilt.

Mein Respekt gilt denen, die aktuell in der JugendKulturWerkstatt Forellenhof wieder mehr Konzerte veranstalten wollen. Also liebes Publikum, gebt euch doch endlich mal einen Ruck und überwindet die drei Meter zwischen Braunschweig und Salzgitter-Lebenstedt ganz todesmutig. Sorry: heldenmutig…man stirbt nicht gleich von Metal, auch wenn das die meisten Bands des Genres Death Metal zumindest textlich proklamieren. Bei den Leipzigern Walking DEAD on Broadway ist’s nicht anders. Sie wollen an diesem Abend im Forellenhof ihr neues Album DEAD Era vorstellen und – nein, in ihren Texten geht’s nicht nur um Tod und Verderben sondern schon etwas tiefsinniger zu. Auf musikalischer Ebene wandeln Walking Dead On Broadway ebenfalls auf komplexeren Wegen. Sie verdichten kompromisslose Brutalität mit überzeugenden Growls und Screams in einer nahezu mythisch-sinnlichen Atmosphäre. Auf ihrem neuen Album, live und auch in ihren Videos: sehens- und hörenswert!
Until The Moment Comes wollen weniger Schnörkel. Von ihnen gibt’s eine ordentliche Packung Metalcore ohne Wenn und Aber, sauber und sympathisch vorgetragen von sehr freundlichen Herren aus Aurich. Ich sag’s ja immer: wir Norddeutschen können auch nett sein! So darf das obligatorische Bandselfie mit Publikum nicht fehlen und auch die Einladung von der Band zum nächsten Konzert über Facebook lässt nicht lange warten. Überraschend kommunikativ! So soll’s sein.
Klarere Kante zeigen Wither, der ruppige Opener des Abends in der Forelle. Wither sind neu und trotzdem irgendwie oldschool. Die noch recht frisch gegründete Formation stiftet bei mir mit nicht immer ganz nachvollziehbaren Moves ein wenig Verwirrung. Willst du „tanzen“, kommst du ins Stolpern. Das macht’s aber interessant herausfordernd und deswegen tu ich‘s trotzdem. Ungebremst ballern und brüllen Wither vor dem scheinbar noch etwas schüchternen Publikum los und zeigen, was scharfkantiger, schnelllebiger Aggressivehardcore kann. Wither kommen aus Braunschweig (Hurra, ein neuer Stern auch bei uns!), strecken mit ihrem Sänger auch einen Fühler nach Leipzig aus und beherbergen zudem ehemalige Mitglieder einer meiner liebsten Braunschweiger Hardcorebands: A Traitor Like Judas.
Apropos, kurzer Seufzer in Richtung B58, wo A Traitor Like Judas im Dezember nach 18 Jahren endgültig Abschied feierte. Dieser Rückzug einer der beliebtesten Bands der hiesigen Hardcoreszene zog soviel Publikum, dass das Ganze wahrscheinlich der bestgelaunteste Trauertanz 2018 an gleich zwei aufeinanderfolgenden Terminen wurde (ich konnte mich da leider nicht zweiteilen und war bei Long Distance Calling, siehe erster Konzertbericht 2019). Das von uns Einheimischen liebevoll nur „Das B“ genannte Jugendzentrum ist einer der ersten Braunschweiger Adressen für die Hardcore-, Metal- und Rockszene. So war es auch beim letzten von mir besuchten Konzert von The Giraffe Men feat. The Mariette Sisters und Bukowskis so voll, dass ich ständig gefotobomt wurde (Wer ist der Typ nur?).

Keine Frage: Zum inzwischen 20jährigen Bandjubiläum von The Giraffe Men feat. The Mariette Sisters wurde wie immer “The wild side of 60ties Punk“ gefeiert und das Publikum schwitzte nicht nur angesichts der fast nackten Musiker im Fakefur-Lendenschurz, sondern auch weil alle ordentlich mittanzen. Zu Recht: 20 fuckin wild years war ‘n geiler Abend! Trotzdem: irgendwie wirkt die regionale Szene außerhalb solch besonderer Anlässe ein bisschen erschlafft. Wo ist nur der wilde Nachwuchs?


Ein Lichtblick ist das gut besuchte Grindcore-Konzert in der Klaue, der charmant abgewrackten Metal-, Alternative- und Punkkneipe im heißen Partydreieck der Stadt. Die junge Braunschweiger Band Hässelhoff spielt vor Cyness aus Potsdam. Sorry, ich weiß gerade nicht, was ich über Grindcore sagen soll. Das geht alles so schnell! Und ist es nicht Grindcore, weil man darüber nicht viele Worte verlieren kann? Nun, liebes Klaue-Team, schimpft gerne beim nächsten Konzert mit mir, dass ich bei euch am liebsten den Kopf ausmache und auch mal Maul halten kann. Ich bin auf jeden Fall wieder zum Gruppengruscheln da und will es dem völlig abgedrehten Sänger von Cyness gerne nachmachen. Von der Theke crowdsurfen, wo sonst geht das besser, als bei euch? An diesem Abend ist wirklich kein Quardatzentimeter Klaue mehr frei. Ich tanze vor der Klotür und habe meinen Spaß! Mehr davon bitte.


Aber es ist das alte Lied in Braunschweig: zu wenig Proberäume, (deswegen?) zu wenig Bands, zu wenig Spielorte, aber auch: zu wenig (reisefreudiges) Publikum. So erscheint es mir zumindest im Moment. Gerade wollte ich schreiben, „mich dürstet nach frischem Wind“, aber Wind kann man nicht trinken, es sei denn, es ist Berliner Luft – aber wer braucht schon Berlin. Wir haben schließlich Halle und Leipzig und die sind gar nicht so weit weg. Mich hält also nichts zurück, um The Oklahoma Kid nach ihrem überzeugenden Auftritt in Salzgitter nach Halle zu folgen. Denn die haben es mir ehrlich gesagt total angetan, vor allem die feinen Melodien in den sonst sehr druckvollen Songs irgendwo zwischen abgehacktem Nu-Metal und bretterndem Hardcore mit einem Gesang, der dir auf eigentümliche Weise erbarmungslos ins Gesicht gespuckt wird. Ich steh‘ drauf! Ihr auch?
Aber dann sind es doch die sensiblen Zwischentöne, die mich eine Musik und eigentlich sowieso alles nachhaltig spüren lassen. Nach diesen hintergründigen Ebenen muss man zwar erstmal suchen, aber sie dann zu finden ist etwas ganz Besonderes. Auch so eine versteckte Perle ist für mich der Spielort in Halle. Den Rockpool e.V kennt noch nicht mal der alte Haller-Hase, mit dem ich an diesem Februarwochenende unterwegs bin. Auf einem kahlen Industriegelände werden wir fündig und wärmstens im Rockpool begrüßt. Eine Ghettotonne brennt vor der kleinen Konzerthalle, die außer einem einzigen Raum mit Bühne und einer sportlich hohen Theke auch nichts weiter benötigt, um cool zu sein. Ich muss mich als eigentlich gar nicht so kurz gewachsenes Wesen ein wenig zu meinem Bier strecken, ansonsten fällt hier aber alles mehr als leicht. Es ist voll, die Stimmung gut und das Publikum jung. Hier scheint szenetechnisch mehr als in Braunschweig zu gehen.




Die Hauptrolle spielen heute Reach The Surface aus dem nahen Leipzig. Auch für mich, denn mit ihrem neuen Album haben sie mich schon vorher geknackt! Viel Liebe schließt konsequente Härte eben nicht aus, oder andersherum, wie ihr es eben sehen wollt. Reach the Surface geben sich den harten wie auch den melodischen Parts so überzeugend hin, dass ich sie schon eher in das Genre Post-Hardcore einordnen würde. Dieser Bruch mit allzu eingefahrenen Mustern ist erfrischend. Noch interessanter ist, dass Reach The Surface schon viel mit den unterschiedlichsten Stilen experimentiert haben und das merkt man ihrem Sound an. Ich entdecke immer wieder Neues in den Songs und bin überrascht von der stimmlichen Bandbreite des Sängers: eklig-schöne Screams, selbstbewusste Shouts, tiefe Growls und gekonnter Klargesang. Das kommt nicht von ungefähr. So finde ich bei YouTube ältere Songs, die ganz anders als die aktuelle Platte sind. Ich werde sogar hart an meine Black Metal Vergangenheit erinnert. Ey, jetzt werde ich auch noch melancholisch. Ok, emotionale Kapitulation! Ich schwenke gerne die weiße Fahne, die ihr so hübsch hinter der Bühne aufgehängt habt. Ihr habt mich: No Return!
The Oklahoma Kid habe ich übrigens verpasst und finde es amüsant, dass ich sogar in anderen Städten zu spät komme. Das pittoreske Städtchen an der Saale hat mich einfach zu lange abgelenkt. Das heißt aber nicht, dass die Kids mir entkommen werden! Vielleicht – und nun werde ich optimistisch – besuchen sie ja mal Braunschweig und treten im B58, im Nexus oder sogar in unserem neuen Kulturzentrum am Westbahnhof auf. Das Westand will bald die Lücke zwischen den kleinen Klubs und den für die meisten Bands viel zu überdimensionierten Veranstaltungshallen schließen und wird dafür eine große Konzerthalle, einen kleineren Veranstaltungsraum und Räume für Soziokultur unter einem Dach vereinen. Das alles befindet sich derzeit noch im Bau, soll jedoch bereits diesen Sommer eröffnen. Ich bin gespannt! Denn die Zukunft der alternativen Musikkultur im Westand sieht jetzt schon ganz vielversprechend aus. Mit der Ankündigung des Clawfinger-Konzerts zeigt sich, dass genau diese mittelgroßen Konzerte wieder in Braunschweig stattfinden werden, die wir schon so lange vermissen. Ich freue mich drauf – vor allem auf die noch nicht so bekannten Supportacts; auf die jungen, für mich noch viel interessanteren Bands, die hoffentlich auch ins Konzept passen. Eure Nische ist nicht zuletzt auch dieser Blog.
Danke für die schönen Konzerte der letzten Zeit und bis zum nächsten Mal! Eure Stef