
Eastereggs im Paläon: Lego-Zeitreise mit Anachronismen und Nougatschokolade
Lego lockt. Das gilt für mich einfach mal immer. So war es im Phæno in Wolfsburg vor ein paar Jahren, und so ist es auch im Paläon in Schöningen, das mit seinem Wolfsburger Kollegen nicht nur den ähnlichen Namen teilt, sondern auch den wissenschaftlichen Inhalt und die ungewöhnliche Architektur. Dabei hat man da am früheren Zonenrand lediglich beim Braunkohletagebau ein paar weggeworfene Stöcke gefunden und 20 Jahre später in endzeitlicher Landschaft ein futuristisches Museum drumherum gebaut. Museale Zeitreise ist zwar für naturwissenschaftlich Interessierte sicherlich spannend, für zu Interessierende ist aber das ganze Setting deutlich spannender. Und für mich eben die Lego-Sonderschau, die noch bis zum 30. Oktober dort zu sehen ist. Und Ostersonntag ist mal ein guter Zeitpunkt für einen Ausflug hart am Elm.
Text und Fotos: Matthias Bosenick
Schon die Anreise ist beeindruckend: Man wird aus Braunschweig kommend im Zickzack und lang ausholend an Schöningen vorbeigeführt und erblickt dann kurz vor Hötensleben das unwirkliche Spiegelgebäude am Horizont, scheinbar komplett von Wetter ausgefüllt. Direkt dahinter fällt die Erde steil ab, in den vormaligen Tagebau. Drumherum befindet sich ansonsten: nichts. Ein winziger Spielplatz, eine Herde nachgezüchteter Przewalski-Pferde, der Rest ist wellige Gegend, tiefes Loch, Kraftwerk Buschhaus und ferne Siedlung. Da wirkt die verschachtelte Schachtel gleichzeitig noch imposanter und noch weniger greifbar, weil einfach nichts zum Reflektieren da ist, außer den Naturgewalten.
Wir parken – Ostara sei’s offenbar gedankt – neben einem Auto mit dem Kennzeichen EI-AS. Die suchen wir später noch, versprochen. Ein Spaziergang um das Gebäude herum, mit gezückter Handykamera, ist da nämlich noch verlockender als die Aussicht auf die Innenansicht. Hier in dem benachbarten Loch entdeckte man nun den Anlass für das Museum: die acht Schöninger Speere, die man in der zweiten Hälfte der Neunziger vor dem Braunkohlebagger in Sicherheit brachte und die eine wissenschaftliche Sensation darstellen, da sie, so die offizielle Information, das Bild der frühen Entwicklung des Menschen aus kultureller Sicht nachhaltig veränderten und als älteste Jagdwaffen der Welt gelten. Also acht Stöcke. Weggeworfenes Holz. Das muss man aber auch erstmal als Sensation erkennen, wenn man da mit dem Bagger ansetzt. Respekt!
Wir zahlen endlich den Eintritt und erklimmen die lange Treppe. In die Speerausstellung geht es links, rechts öffnet sich der Saal mit den Lego-Dioramen. Die Menschheitsgeschichte, nachgebaut mit genialem dänischen Plastikspielzeug. Wir erfahren, dass acht Menschen ein halbes Jahr lang an den gigantischen Schaubildern arbeiten, in Summe also vier Jahre Bauzeit darin stecken. Und selbst, wer sich lediglich beruflich mit Lego beschäftigt, kommt nicht umhin, es spielerisch einzusetzen, und prompt entdecken wir natürlich die Scherze, die sich die vom Paläon beauftragten Bauleute leisteten. Und erfahren, dass die Scherze Absicht sind, um die Kinder für historische Anachronismen zu sensibilisieren; die Besucher können im Rahmen eines Preisausschreibens die versteckten Späße auf einer Postkarte notieren. Weil Ostern ist und weil wir Lego kennen, suchen wir auch ohne diesen Hinweis schon nach solchen Elementen. Und werden häufiger fündig, als es das Quiz vorsieht. Honi soit qui pense.
Wie es sich für uns Protestpunks (ähm) gehört, drehen wir die Runde gegen den Uhrzeigersinn (also versehentlich) und erleben die Geschichte folglich rückwärts. Am Anfang stehen daher für uns: das Wolfsburger Schloss und das VW-Kraftwerk. Schon hier zeigt sich der Charakter der Dioramen: gigantische Gebäude, üppige Landschaften mit fein ziselie
rter Vegetation und eingestreute Abbilder der Zivilisation zum dargestellten Zeitpunkt. Es zeigt sich besonders im Vergleich zum späteren Rundgang durch die Hauptausstellung, dass die Lego-Schau trotz der absichtlichen Inkorrektheiten auf ihre Weise informativer ist. Hier sieht man bronzezeitliche oder steinzeitliche Gebäude im Bau neben solchen nach Fertigstellung, verfolgt Arbeiter bei der, nun, Arbeit, observiert das Alltagsleben, erspäht die zeitgemäßen Gefahren und Konflikte. Manche Details sind sogar recht schonungslos: Ein Konquistador wird von einem Krokodil gefressen, ein Ä
gypter angelt im Hafen einen Hai, Römer und Germanen liefern sich lethale Schlachten, von gejagten Mammuts bleiben eben nur Knochen übrig; das ist angemessen anschaulich und zeugt – je nach Gemütslage des Betrachters – auch von Humor. Und der kommt trotz aller Informativität nicht zu kurz.
Was macht der Astronaut im alten China? Was der Pandabär neben den Kaninchen im südamerikanischen Urwald? Was die Altpapiertonne im Alten Rom, die neuzeitliche Touristin auf dem Piratenschiff, das Baguette in der Steinzeit, Jar Jar Binks in einem ägyptischen Tempel, Marge Simpson im Mittelalter? Wer entdeckt den Rasenmäher, den Indianer, das Fahrrad, die Bushaltestelle, Fred Feuerstein? Und das sind nur ein paar Beispiele. In Sachen historischer und geographischer Ungenauigkeit gaben sich die Bauleute alle Mühe und hatten sicherlich einen Heidenspaß beim lehrreichen Versteckspiel. So wie wir ihm auch beim Suchen haben. Das ist geschickt, denn so befasst man sich noch intensiver mit den opulenten Schaubildern. Auch die korrekten Details haben es nämlich in sich und verführen dazu, sich selbst in der genoppten Realität spazierend zu imaginieren. Riesige Wälder, mittelalterliche Straßen, steinzeitliche Siedlungen, Hipster auf der Großen Mauer, romantische Bachläufe, ausgearbeitete Flora und Fauna, detailreiche Architektur: Gern wäre man eine Minifigur auf Erkundung. Wie schon im Phæno ist auch hier zu beobachten, dass der Gegenstand seine Haltung auf die Belegschaft überträgt: Lego macht lustig, und so sind die Angestellten gutgelaunt auskunftsfreudig und verteilen sogar datumsgemäß Schokoladeneier im gesamten Paläon. Auch daran muss jemand ausgemachtes Vergnügen gehabt haben. Nougat! Lecker.
Die eigentliche Ausstellung fällt gegen die Lego-Schau leider ab. Was will man auch um acht Speere herum aufziehen, was es nicht andernorts längst gibt? Was will man jemandem noch vermitteln, der sich ohnehin mit der Historie befasst und ein ausreichendes Grundlagenwissen hat? Außer den Speeren sieht man bergeweise Knochen und eine große Wand mit surreal gruppierten Tieren und Pflanzen, die multimedial umeinander scharwenzeln (ein Greifvogel etwa wird per Beamer sporadisch an die Wand geworfen – dafür muss man schon lange hingucken). Für Schulklassen, für Anfänger in der Thematik ist das Paläon inhaltlich sicherlich überwältigend. Der Blick aus dem Fenster in die Gegenwart ist für uns indes häufig eindrucksvoller als der in die Vitrinen. Zugegeben, am Audioguide hatten wir kein Interesse; wir wissen also nicht, was uns tatsächlich alles entging. Ein Fast-360-Grad-Kino mit einer steinzeitlichen Jagdszene in moderner Darstellung beendet die Schau, danach können Kinder noch selbst forschen und die Eltern im Flintstone-Café Ernährung praktizieren. Oder doch wieder außen um das Paläon herum spazieren und die freundlicherweise vom paläolithischen Osterhasen im Museum zurückgelassenen Nougateier verköstigen.
Das Paläon ist sympathisch, eindrucksvoll und sicherlich lehrreich, aber noch geiler ist eigentlich die Lego-Ausstellung. Schade, dass die nicht permanent ist. Also hurtig, der 30. Oktober ist bald! Wir sind dem Datum schließlich schon um eine Stunde näher gerückt, und zurück rückt die Zeit auch erst genau an dem Tag.